Zur Evolutionstheorie hat Drosten im letzten Podcast etwas erklärt ... die Podcasts gibt es übrigens jedesmal auch als Textversion etwas weiter unten auf der Seite:
Hennig: Umso wichtiger, dass Menschen, die jetzt neu ins Pflegeheim kommen, geimpft sind. Also die Erkenntnis, was die krankmachende Wirkung der Mutante angeht, ist ganz wesentlich für die Impfstrategie, auch für nicht-pharmazeutische Interventionen. Ich möchte an der Stelle trotzdem noch mal die Gelegenheit nutzen, unser grundsätzliches Verständnis zu schärfen. Es gab zwischendurch mal eine gar nicht so wenig verbreitete Lesart, die da lautete: Virus-Mutation führt langfristig eigentlich immer dazu, dass Viren sich abschwächen, weil ganz grob vereinfacht gesagt, das Virus will sich ja verbreiten und nicht seinen Wirt töten. Es liegt also gar nicht im Interesse des Virus, krankmachender zu werden. Das kann man so nicht sagen. Oder?
Drosten: Nein, das ist Unsinn. Das kann man nicht sagen. Die Evolution geht nicht strikt in diese eine Richtung. Ich kann Ihnen einfach mal zwei Gegenbeispiele nennen, die jeder sich gut vorstellen kann. Nehmen wir ein Atemwegsvirus. Das hat nichts davon, wenn es den Patienten schwer krankmacht, denn das Virus verbreitet sich ja am besten dann, wenn der Patient durch die Gegend rennt. Und vielleicht in einer Straßenbahn ist und viele Leute trifft, weil er sich kaum krank fühlt. Also ein Atemwegsvirus, das würde also gut übertragen werden. Und nur darauf werden ja die Viren selektiert, auf die Übertragung. Also das Virus will bleiben, das ist so eine Art A-posteriori-Phänomen. Ein Virus, das nicht geblieben ist, das kennen wir gar nicht, denn es ist ja verschwunden. Also alle unsere Viren, die wir kennen, die sind eigentlich drauf selektiert, sich zu verbreiten und dadurch zu bleiben. Also jetzt werde ich als Virus hier jetzt selektiert darauf, dass ich im Rachen vor allem bin und nicht in der Lunge. Und im Rachen fühlt sich der Patient meistens nicht besonders krank. Auch wenn ich in der Nase bin und der Patient Fließschnupfen bekommt, ist es besonders gut, weil der hat nicht immer ein Taschentuch dabei, und am Ende hat er das Zeug doch an den Händen und fasst damit an die Türklinke und verbreitet das auf den nächsten. Also gerade diese Betonung auf die oberen Atemwege, die Nase und den Rachen, und eben nicht auf die Lunge, das wäre etwas, für das so ein Muster-Virus der Atemwege selektiert würde.
Jetzt gibt es aber ein anderes Virus, das ist jetzt ein Virus, das wird über Moskitos übertragen, und das findet zum Beispiel in den Tropen statt. Wir stellen uns den Patienten jetzt vor als ein Bewohner eines tropischen Landes, vielleicht in einem Dorf. Da ist ja die Frage: Wie kann jetzt am besten das Virus übertragen werden zum nächsten Bewohner dieses Dorfes? Es geht über Moskitos, das Ganze. Da ist ja klar, wenn ich ein Virus bin, das den Patienten ganz fit lässt, wo der Patient sich gut fühlt und gesund ist, da wird ein Moskito kommen und setzt sich auf den Arm von dem Patienten. Und der Patient schlägt es Moskito tot. Das Virus wird nicht weiterübertragen. Wenn aber dieser Patient jetzt schwerstkrank im Bett liegt oder auf seiner Matte in der Hütte und vollkommen gleichmütig in Agonie sich von Moskitos natürlich befallen lässt und zehn oder 20 Moskitos eine Blutmahlzeit nehmen können, dann wird das dieses Virus sehr stark verbreiten. Entsprechend können wir auch beobachten, es gibt viele Arbovirus-Erkrankungen, die relativ pathogen sind, also Dengue-Fieber, Gelbfieber, solche Sachen. Die sind sicherlich in ihrer Evolutionsgeschichte auf höhere Pathogenität selektiert worden. Deren Vorgänger und Verwandte sind sicherlich im Menschen weniger pathogen. Und jetzt sind das zwei Extrembeispiele.
Und es gibt immer auch andere Evolutionswege. Gehen wir zurück zu den respiratorischen Viren, zu den Atemwegsviren, wo diese pauschalen Einschätzungen so nicht gelten. Also ich habe gerade diesen Fall aufgemacht, es ist gut, wenn ich in den oberen Atemwegen mich konzentriere. Man muss aber natürlich schon auch sagen, es ist genauso gut, wenn ich mein Replikationsniveau verzehnfache. Wenn ich jetzt schon bin in der Nase und in der Lunge, warum sollte ich mich aus der Lunge zurückziehen und nur in die Nase kriechen? Ich könnte auch sagen, ich repliziere einfach, also sowohl in der Lunge als auch in der Nase, das Virus zehnmal mehr. Der Teil, der in der Nase repliziert, der wird übertragen, und zwar zweimal besser. Es ist ja nicht so, zehnmal mehr Virus ist zehnmal bessere Übertragung, sondern das sind ja Dinge, die mit der dritten Potenz abnehmen. Wir haben ja eine Kugel von Luft um uns rum, also einen dreidimensionalen Raum. Also haben wir an der Quelle der Infektionen achtmal mehr Virus, also zwei hoch drei, dann ist das eine doppelt so hohe Konzentration in einer gewissen Entfernung in einem gewissen Volumenintegral entfernt von dem Patienten. So ganz einfach gedacht würde man sich also die Infektionseffizienz hier abhängig von der Konzentration vorstellen.
Zehnmal mehr Replikation könnte man also in der Lunge und im Rachen machen. Dann würde das bedeuten, ich bin als Virus übertragbarer. Ich mache aber als Kollateralschaden den Patienten auch kränker, denn zehnmal mehr Virus in der Lunge, das wird natürlich eine stärkere Lungenentzündung machen und daran stirbt der Patient am Ende.
Und leider muss man sagen, es sieht so aus, als wäre genau das hier jetzt gerade bei der B.1.1.7-Mutante auch passiert. Also es gibt übereinstimmende Daten aus mehreren Studien, die suggerieren, dass das Replikationsniveau dieses B-1.1.7-Virus vielleicht sogar um das Zehnfache angestiegen ist, was eben wirklich auch damit einhergeht, dass wir hier eine Erhöhung der Verbreitungsfähigkeit um 60, 70, 80, in einigen Studien sogar um 100 Prozent haben, also eine Verdopplung. Erhöhung um hundert Prozent ist eine Verdoppelung. Also wir bewegen uns, Sie sehen das schon, in ganz groben Schätzbereichen, die aber von den mathematisch-physikalischen Grundüberlegungen her miteinander in Gleichklang stehen.