Motobécane 350 V 4 C - 1947
Der Hoffnungsträger
Es war nicht einfach, bei Motobécane eine Produktion aus dem Nichts wieder aufzunehmen. Die Deutschen hatten die Fabrik während des Krieges besetzt und fast alle Werkzeugmaschinen bei ihrem Abzug mitgenommen oder zerstört, der Mangel an Rohstoffen war gravierend und zahlreiche kluge Köpfe aus der Entwicklungsabteilung waren im Krieg gestorben. Die großen Einzylinder aus der Vorkriegszeit beherrschten die spärliche Produktion. Die Verwaltung kam langsam in Gang, aber man musste extrem sparsam sein, denn es fehlte an Allem. Auch an Geld. Dennoch brauchte es dringend ein neues Konzept, einen bedeutenden Entwurf, denn die erste internationale Motorradmesse 1946 hatte nur alten Plunder und Ladenhüter gezeigt. 1947 war eigentlich die erste echte Nachkriegsmesse.
Der Ingenieur Éric Jaulmes, der 1946 die technische Leitung von Motobécane übernommen hatte, begann 1945 mit der Entwicklung der 350 V4C. Jaulmes hatte erfolgreich 125er und 175er Viertaktmotoren entwickelt. Nach dem zweiten Weltkrieg beherrschten die britischen 350er und 500er Einzylinder und 500er Parallel Twins den internationalen boomenden Motorradmarkt. Jaulmes wollte mit seinem ersten „großen“ Motorrad ein Gegengewicht herstellen: einen 350er Zweizylinder-Viertakter in einem federleichten und dennoch komfortablen Sportmotorrad. 1947 legte er Motobécane den Entwurf für einen 350er V2-Motor vor, den er mit dem Argument bewarb, die Kurbelwelle sei kürzer und kostengünstiger herzustellen, als die eines Reihenmotors, zudem könne man bei den Zylindern auf die bewährte Technik der 175er Einzylinder Modelle zurückgreifen. Da man bei Motobécane traditionell zur Sparsamkeit neigte überzeugte diese Argumentation.
Die erste Maschine, die in letzter Minute fertiggestellt wurde, wurde das meistdiskutierte Motorrad der Pariser Messe 1947. Vom Publikum wurde sie gefeiert, aber von der traditionalistischen Presse verrissen: „Motobécane solle besser seine großen Einzylinder aus der Vorkriegszeit erneuern und an der Kommerzialisierung der 125er Z46 „MobyClub“ arbeiten, die 1946 als „Volksmotorrad“ angekündigt worden war.“
Hauptargumente für eine erfolgreiche Vermarktung in der Nachkriegszeit waren Leistung, Zuverlässigkeit und Komfort. Als besonders komfortabel galt damals ein Motorrad nicht etwa wegen herausragender Federungen oder besonders breiter Sättel, sondern hauptsächlich, wenn es besonders leise war. Dem trug Jaulmes durch die Verwendung einer gemeinsamen Nockenwelle (reduzierte mechanische Geräusche), eines schrägverzahnten Primärgetriebes und vor allem durch einen großvolumigen Schalldämpfer, der überdies mit Glaswolle gefüllt war, Rechnung. Die Krümmerrohre mündeten daher in einem riesigen Schalldämpfer, der wie ein Werkzeugkasten gestaltet war. Der Motorblock, die beschichteten Zylinder und die Zylinderköpfe waren aus Aluminium mit Ventilsitzen aus Bronze und Nadel-Ventilfedern sowie Kipphebeln aus geschmiedetem Dur-Aluminium. Die Maschine überzeugte optisch mit ihrem langgestreckten Tank und dem gefälligen Motorblock, der wie aus einem Guss wirkte und entwickelt sich zum Publikumsmagnet der zweiten Nachkriegsmesse im Oktober 1947. Es stärkte das französische Selbstvertrauen, dass eine der größten heimischen Marken bei null anfangend eine leistungsstarke und moderne Maschine vorstellte, deren Linienführung und technische Solidität bemerkenswert waren und internationale Anerkennung fanden. Anders als bei der Firma üblich, wurde der Zweizylinder für die Zwillingsmarken Motobécane und Motoconfort unter dem gleichen Codenamen, V4C, präsentiert, aber als ob die Entscheidung, sie auszustellen, erst in letzter Minute getroffen worden sei, erschienen die V4C nicht im „Prospectus du Salon“. Dennoch standen sie sie in der Halle, in Beige und Braun unter der Bezeichnung SuperClub bei Mototobécane und in Grün als SportClub bei Motoconfort.
Die Messemodelle waren nur mit einem Zentralvergaser ausgestattet, aber die zwei messinggerahmten Tafeln am Stand kündigen an, dass zwei Vergaser als Option erhältlich sein würden. Nach Aussage von Jaulmes, der seine Entwürfe bei ausgedehnten Touren in die Alpen selbst ausprobierte, war die Zweivergaser-Version deutlich unterhaltsamer, aber die Fahrleistungen erschreckten die Geschäftsführung. „Während der Testfahrten erreichte der V4C, der für 120 km/h in der Produktion angekündigt war, in Montlhéry 155 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit, während der N4C, der vier Jahre später, 1951, gemessen wurde, nur einen Durchschnittswert von 110 km/h erreichte“, sagte Éric Jaulmes in einem Interview Anfang der 70er Jahre.
Vier komplette V4C wurden gebaut, plus ein paar Motoren extra. Es wurden zahlreiche Tests absolviert, darunter eine Paris-Nizza Vollgas Hin- und Rückfahrt durch den Rennfahrer Patuelli, der für Motobécane als Testfahrer tätig war.
Die Leistung der N4C war auf bescheidene 17 PS bei 6500 Umdrehungen pro Minute begrenzt worden, was bei dem geringen Trockengewicht (je nach Ausstattung 130 bis 135 kg) dennoch für sehr ordentliche Fahrleistungen genügte. Der Entwurf sah vor, beide Zylinder in einer Achse anzuordnen, was die Konstruktion eines aufwändigen Gabelpleuels erforderte. Das war kostspieliger, als bei zwei nebeneinander angebrachten Pleueln mit Nadellagern. Andererseits konnte dadurch eine sehr kurze, steife und dennoch leichte Kurbelwelle eingesetzt werden.
Trotz zahlreicher Gleichteile mit bestehenden oder in Entwicklung befindlichen Modellen, insbesondere der 175er, von der zum Beispiel die Kolben stammten, blieb die V4C zu teuer. Die gesamte Produktionskapazität des Werkes wurde zudem bereits für die D45, für die 125er und 175er Viertakter und schließlich die Mobylette benötigt, deren kolossaler Erfolg für das endgültige Aus der 350er V2 sorgte. Aus finanziellen Gründen entschied sich Motobécane dennoch für eine modernisierte Version der 350 Superculasse aus der Vorkriegszeit. Vermutlich eine der vielen kleinen Fehlentscheidungen, die letztlich zum Niedergang der französischen Motorradindustrie beitrugen.
Die einzigen erhaltenen V4C- Modelle sind der Prototyp einer SuperClub, die zu Testzwecken eingesetzt worden war und von der Familie ihres Konstrukteurs Éric Jaulmes aufbewahrt wurde, sowie eine von Maurice Chapleur rekonstruierte Version, die derzeit im Musée de la Brand in Saint-Quentin ausgestellt ist. Ein sehr hübsches Modell, dessen Motor völlig leer ist.
Technische Daten:
4-Takt Zweizylinder V-Motor aus Aluminium, Zylinderwinkel 45°, 360 cm³ (61,8 mm Bohrung, 60 mm Hub) je nach Ausführung ein oder zwei zentrale Vergaser, Magnetzündung, Vierganggetriebe rechts geschaltet, schrägverzahntes Primärgetriebe, Sekundärantrieb über Kette im wasserdichten Kettenkasten, Mehrscheiben-Trockenkupplung, 19“Räder, Trommelbremsen Ø 170 mm, fahrfertig ca. 130 kg.