Der letzte Tag unserer Reise beginnt glaube ich zu sehr unterschiedlichen Uhrzeiten. Während die organisatorisch orientierte Fraktion längst ausgeschlafen hat und sich mit Körperflege am nahen Bach und Kaffeezubereitung beschäftigt schlummern die Schwarzhandeulen noch bis zum späten Vormittag. Es ist angenehm kühl in der Holzhütte, man bekommt das sommerliche Wetter nicht so hautnah mit, wie in einem Zelt. Irgendwann beschliesst der Präsident, uns mit Kaffee zu bedrohen und natürlich sind die Frühschläfer gespannt, von den Eulen den Status Quo zu erfahren, denn das Motorengeräusch hat jeder mitbekommen, nur die Jubelschreie im Anschluss haben gefehlt.
Während wir langsam zusammenpacken beschliesst Steve zu meinem Bedauern, die Strada Panoramica nicht mitzufahren. Verständlich genug, hat er doch knapp 200 km mehr zurückzulegen als wir und eine Familie, die ihn erwartet. Dennoch schade, es hätte ihm dort oben sicher auch getaugt. Der Herr Koardl schliesst sich aus lauter Verzweiflung an, denn zum Einen hat er die selbe Strecke und auch eine Familie, zum anderen hat er ja diesen unsäglichen, "Wolke" genannten Heeresrucksack am Buckel, den er noch nicht einmal alleine aufsetzen kann. Dabei hat ihm zumeist Steve assistiert, also fährt der Koardl einfach mit seinem Adjutanten mit. Und wieder so ein typisches AiA-Ding: die Jungs fahren nicht, ohne anzubieten, den Müll wegzufahren.
Wir anderen packen in aller Ruhe fertig und fahren jetzt zu fünft zur Panoramica hoch. Ich bin heute sehr blümchenflückerig unterwegs. Anfangs ist das der Restmüdigkeit geschuldet. Von Kilometer zu Kilometer wache ich zusehends auf, und in dem gleichen Mass in dem ich wacher werde realisiere ich meine Umwelt mehr und mehr. Die Strada Panoramica trägt schon im Kiefernwald an ihrem Fuss den Namen zu recht. Ich halte mehrfach an, um den genialen Blick in das Tal zu bewundern. Die Strasse ist etwa ein Auto breit und trägt auf den ersten acht oder zehn Kilometern einen alten aber intakten Teerbelag. Sie schwingt sich in meist sanften Windungen gemächlich den Berg hoch, von nur wenigen Kehren geziert.
Auf der Strasse sind einige Radfahrer unterwegs, ein paarmal kommen sehr verhalten fahrende Autos entgegen und wir passieren etliche Fussgänger, die als Paar oder kleine Gruppe unterwegs sind. Mir fällt auch hier wieder angenehm auf, dass alle durch die Bank sehr freundlich zurück grüssen, die meisten ein Lächeln im Gesicht mit sich herumtragen und es nie eine böse Bemerkung oder einen neidvollen Konkurrenzblick gibt, wie ich das aus Deutschland kenne. Die italiener machen eher eine Bemerkung über die bella Machina, oder über das Spitzenwetter. Man begegnet sich freundlich und wohlgesonnen. Das ist in Deutschland anders.
Ab der Baumgrenze gibt es die ersten Schneeanemonen zu bewundern und sogar einen Enzian. In einer Kehre stehen die vier Kollegen und Uwe schraubt an der Enfield.
"Hast Du ein Problem oder ist das nur Kontrolle?"
"Nur a Kontrolle"
Uff.
Ich fahr schon Mal voraus, weil ich wie gesagt beschaulich unterwegs bin. Nur wenig nach der Rastkehre beginnt eine wilde Schotterstrecke, die mich sehr an den Stol 2008 erinnert. Ich komme mittlerweile nach einigen Fahrtipps von Uwe und Alex besser damit zurecht, ein Vergnügen ist das Vorderrad dennoch nicht. Schotter ist für die anderen mehr Vergnügen, für mich eher eine Aufgabe. Wenn ich es nicht immer wieder übe, dann lerne ich es halt nie. In einer starken Kurve mit einem wunderbaren Ausblick halte ich, um die Kollegen in Fahrt zu fotografieren. Alex im Drift, dichtauf Uwe mit einem Grinsen das selbst durch sein getöntes Visier durchscheint, dann mit erheblichem Abstand Jan, sehr grade und sicher auf seiner DR und nach einiger Zeit der Präsident, bei dem leichtes Gepäck immer noch aussieht, wie ein durchschnittlicher mozambikanischer Umzug. Ich starte wieder, vergesse fast meinen Helm, weil er hier so nebensächlich scheint und fahre weiter. Nur wenige hundert Meter weiter hat Jan sein Motorrad in eine Schneewehe geworfen.
Jan hat im Regelfall zwei gewaltige Alukisten am Heck der Suzuki montiert, die jetzt neben dem Motorrad liegen. Der grösste Teil der Fahrbahn ist von einer Schneewehe belegt. Nur auf der linken Seite direkt am Hang ist eine zwei Hand breite matschige Fahrbahn mit tiefen Tauwasserpfützen. Neben besonders Steilen Abhängen haben die Italiener Steinpfosten an den Fahrbahnrand platziert, die äusserst massiv sind. An einem davon bleibt Jans linker Koffer hängen, was ihn ins Trudeln bringt und zur Folge hat, dass er nach rechts in die Schneewehe fällt. Dabei beleidigt er den rechten Koffer. Gottseidank hat Jan sich nicht verletzt, denn nochvielgottseidanker ist er nicht zur anderen Seite gekippt!
Zwei italienische BMW GS Fahrer mit klassischen 800er GS in würdigem Alter kommen uns entgegen, die uns schon aufgefallen waren, als wir noch gepackt haben. Die haben vermutlich schon damals, als ihre Eisen noch State Of The Art waren jeden Samstag mittag am Col de Irgendwas gestanden und tun das halt heute auch noch so. Die beiden sagen, eine Weiterfahrt sei impossibile und quetschen sich an uns vorbei, während der Präsident dem Jan seine Koffer an das Motorrad gurtet.
Wir fahren weiter und stehen nach weiteren sechs- oder achthundert Metern vor einem Schneefeld, das auf knapp hundert Meter Länge die komplette Fahrbahn unter sich versteckt. Alex und Uwe sitzen dort und rauchen gemütlich. Ich sage voller Bestimmtheit zu Uwe und in die Runde, dass diese Herausforderung die Qualität meiner Reifen weit überfordert und ich umdrehen werde. Uwe sagt, die Qualität seiner Reifen würde das ebenfalls überfordern. Von Umdrehen sagt der Schlingel nix. Weiter die Strasse entlang sehe ich noch zwei Schneefelder, die zwar wieder eine schmale schlammige Fahrbahn zwischen sich und dem Steilhang haben, die aber ebenfalls bedrohlich auf mich, meine latente Höhenangst und meine glatten Strassenschlappen wirken. Meine Luftarmut dank des erblich erworbenen Asthma trägt dazu bei, keine körperlichen Gewaltakte auf 1870 Meter Meereshöhe absolvieren zu wollen.
Ein italienisches Wanderepaar interessiert sich für unsere Motorräder. Ob sie die Junak fotografieren dürfen, so etwas hätten sie noch nie gesehen. Merkwürdig eigentlich...
Der Mann erzählt mir, er hätte auch eine Ducati, eine Monster, aber für hier oben wäre das eher nichts, damit würde er nur im Tal herumfahren. Sehr vernünftig eigentlich. Warum tue ich Trottel es ihm nicht gleich? Dann bietet er uns an, zu helfen, die Motorräder hinüberzuschieben. Wir lehnen unisono ab. Das kann nicht hinhauen. Nicht mit fünf überladenen Motorrädern von denen mindestens zwei in einer unmöglichen Gewichtsklasse sind. Das geht nicht. Niemals. Auf gar keinen Fall.
Der Präsident bemerkt, es würde auf der anderen Seite des Schneefeldes gespiegelt gleich aussehen, wie bei der Auffahrt, man könne also auch guten Gewissens umkehren. Darauf Uwe lapidar:
"Darum gehts ned, es geht um des Schneefeld."
Ab jetzt ist klar, wir werden drüberfahren. Keine Ahnung wie, aber wir machen das.
Ich bleibe skeptisch.
"Jungs, schaut Euch Mal die Reifen von meinem Ömmes an. Ich kann doch einfach umdrehen und in aller Ruhe zum Wirt runterfahren und Kaffee trinken, statt Euch hier ständig auszubremsen."
Darauf erwiedert der Präsident:
"Eins ist klar Justus, keiner muss, jeder kann. Wenn Du nicht rüber willst ist das Deine Entscheidung, die wird respektiert."
Uwe stellt sich neben mich, grinst bis an die Ohrwascheln und spricht von beschwörender Gestik unterstützt: "Du wuist, Du wuist, Du wuist...."
Klar will ich.
Ich glaub halt nicht, dass ich kann...
Das Argument, das schliesslich alle überzeugt ist:
"Wo sollen wir unseren Gipfelwein trinken, wenn wir umdrehen?"
Beschlusslage ist jetzt: Der Herr Präsident hat die tauglichsten Reifen, der fährt als erster und macht eine Spur. Dann wird die Ducati, dann die DR Big, dann die Enfield und zum Schluss die Junak rübergeholt. Der Herr Präsident packt einiges ab, nimmt Anlauf und steht nach drei Metern im Tiefschnee. Das Hinterrad gräbt sich Richtung Australien, statt Vortrieb nach Westen zu geben. Uwe springt sofort heran, um zu schieben, aber es geht nichts. Ich höre mein Handy klingeln. Selbst hier oben ist Netz! Hat ja auch eine beruhigende Komponente....
Der Plan wird geändert. Der Präsident steigt ab und bedient Kupplung und Gas oberhalb des Motorrades nebenherlaufend, während die anderen das Motorrad hochdrücken, um es am Einsinken zu hindern. So geht es. Mühsam, aber es geht. Irgendwie.
Nach einer unsäglichen Kraftanstrengung für alle ist der Ömmes drüben. Ich bin irgendwann zum Fotografieren übergegangen, mein Asthma hat mir die Grenzen gezeigt. Jetzt ist die Ducati dran. Ich hab immer noch Zweifel, aber die Gruppendynamik treibt uns alle zu Höchstleistungen. Keine Ahnung wie und weshalb, nach zehn Minuten finde ich mich breit grinsend auf meiner Ducati sitzend wieder, auf der einzig richtigen Seite des Schneefeldes, der Anderen.
Was für ein überwältigendes Gefühl, solche Freunde zu haben, und das in dieser Kulisse bewiesen zu bekommen. Ich bin mehr als ein bisschen gerührt und habe einen der seltenen Momente, in denen mir die Sprache entgleitet:
"Ihr seid Trottel!" sage ich glücklich lachend, und alle bestätigen es mir.
Ich gehorche meinem Asthma und beschränke mich darauf, abgeworfene Gepäckstücke der Freunde auf die richtige Seite der Schneewehe zu tragen, während die anderen ein Mopped nach dem anderen herüberschaffen.
Endlich sind alle drüben, beobachtet von einem wachsenden Publikum anderer Moppedfahrer, die aber allesamt umdrehen. Die AiA trinkt währenddessen einen Gipfelwein.