Reisebericht Graz --> Mt. Everest

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Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Wauschi » Mo 06 Feb, 2023 15:24

Letztes Jahr (2022) habe ich mir Zeit genommen eine Ausfahrt zu machen, die schon lange auf der Liste war.
Generell habe ich mir ein perfektes Jahr zusammengestellt, bin rund 40.000 km mit dem Motorrad unterwegs gewesen, habe in dem Jahr keine 5 E-Mails verfasst.
Dementsprechend gering war meine Präsenz im Forum. Postings gab es so gut wie keine. (In meiner Vorstellung von einem perfekten Jahr kommen Computer leider nicht vor.)

Gerne möchte ich einen kurzen Reisebericht teilen.

Gruß,
Wauschi

P.S.: Einige zusätzliche Bilder der als Probefahrt begonnenen Reise hier: viewtopic.php?f=60&t=19688
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Wauschi » Mo 06 Feb, 2023 15:26

Ich bin total erschöpft. Nach all den Anstrengungen sollte ich trotz Hitze schlafen wie ein Stein. Nur, hier auf dem Dach der Polizeistation bringen mich die Moskitos fast um. Wo sind wir eigentlich? Seit Tagen werden wir hier in Belutschistan, Pakistan von Polizeistation zu Polizeistation weitergereicht. Am Dach bei 30°C ist die Hitze wenigstens erträglich. Hunger, Durst und das ständige Warten auf Polizeieskorte haben schon viel Kraft und Nerven gekostet. Ehrlich gesagt, unsere Überlandreise von Frankfurt zum Mt. Everest haben wir uns anders vorgestellt.

Matej und ich sind schon seit langem Kollegen, teilen sogar dasselbe Büro, als uns im Frühjahr 2022 der Corona-Koller packt. Wir fühlen uns eingesperrt, während draußen in der großen, weiten Welt Abenteuer warten, sitzen wir tagein, tagaus im Büro. Es bedarf nur eines kleinen Impulses von Matej. “Ich will einmal den Himalaya durchqueren!”. “Und ich wollte immer schon zum Everest.”, meine Antwort. Schon sägen wir an den Stäben unseres goldenen Käfigs. Noch in derselben Woche sind unsere Jobs gekündigt und wir warten auf die Lieferung unserer neuen Motorräder.

Die Strecke planen wir nur grob, möchten uns so viele Routenoptionen wie möglich offen halten. Kein Termindruck oder vorgegebene Streckenführungen soll uns in ein Reisekorsett zwängen. In der letzten Märzwoche haben wir nach zermürbender Bürokratie Visa für Iran, Irak, Kuwait, Saudi Arabien und auch Pakistan in der Tasche. Wegen “Covid” verwehrt uns die indische Botschaft ein Visum für die Einreise auf dem Landweg. Den wahren Grund für die Absage vermuten wir, Pakistan und Indien sind seit 1947 im Krieg. Offene Grenzen mögen beide nicht.

Wie auf Nadeln sitzend, fiebern wir der Abreise entgegen. Ende März ist es so weit. Die Motorräder stehen abholbereit in der Nähe von Frankfurt. Thomas, unser Freund bei Bikes-Peak in Rodenbach, hat uns angeboten, die Motorräder mit seinen Gepäckträgern auszustatten und die Motorräder startklar zu machen. Obwohl wir aus Graz, im Süden von Österreich sind, starten wir daher im März 2022 von Frankfurt. Das Hochgefühl, das uns auf dem Weg nach Venedig beflügelt, ist unbeschreiblich. Da wir die Strecken bis in die Türkei gut kennen, möchten wir so rasch wie möglich das noch winterliche Europa hinter uns lassen und nehmen die Fähre nach Griechenland.

Die Meerluft, die Olivenbäume, das gute Essen und die langsamer tickenden Uhren in Griechenland könnten uns ins wirkliche Leben holen. Bei uns funktioniert es leider nicht. Wir hatten uns eingebildet, größere Tanks und eine “bessere” Auspuffanlage zu benötigen. Einige Tage hängen wir schon zu Beginn der Reise fest, um die durch den Umbau eingebrachten Fehler nachzubessern An der türkischen Grenze haben wir zwei Lektionen gelernt. 1) Lasst eure Motorräder so original wie möglich! 2) Macht vor der Abreise ausgiebige Probefahrten. Ich durfte diese Lektion schon öfter lernen, merke sie mir aber nicht so gut.

Die Einreise in die Türkei verläuft ohne Probleme, doch statt exotischer Bazare finden wir uns in der griechischen Antike wieder. Wie Perlen auf einer Schnur reihen sich die antiken Kulturstätten wie Troja, Pergamon oder Hierapolis. Mit weit offenen Augen fahren wir mitten durch die wie Termitenbauten angelegten, kegelförmigen Behausungen in Uçhisar und Ortahisar in den Bergen von Kappadokien. Als wir in Karahan Tepe durch einen Kreis aus 12.000 Jahre alten, T-förmigen Obelisken spazieren, habe ich mein kulturelles Highlight in der Türkei gefunden. Schon 8.000 Jahre vor Stonehenge wurden die Steinkreise errichtet und hier kann man frei um sie spazieren. Keine Souvenirstände, keine Touristen, kein Zaun umgibt das Weltkulturerbe. Wenn es einen Ort gibt, wo man antike Kultur noch selbst entdecken kann, dann ist es hier.

Entlang der syrischen Grenze zwischen Mardin und Cizre beobachten uns aufmerksam die syrischen Wachposten, nur einen Steinwurf entfernt von uns. Nach der Überquerung des Tigris führt die Straße hinauf in die Berglandschaft von Kurdistan. Wunderbar kurvige Bergstraßen mäandern durch die Bergwelt. Anders als in den Alpen zieren die Bergspitzen nicht Gipfelkreuze, sondern Wachtürme. Plötzlich geht unser GPS nicht mehr. Die Straßenkarte sollte man offline verfügbar haben. Das Militär stört bereichsweise den GPS Empfang und stiftet anfänglich Verwirrung bei uns. Entlang der gut bewachten Grenze zum Irak haben wir Probleme, einen Zeltplatz zu finden. Kaum verlassen wir die befestigte Straße, kommt von hinter einem Stein oder aus einem Gebüsch ein Soldat, der uns freundlich anweist, auf der bewachten Straße zu bleiben.

Da wir so oft des Platzes verwiesen werden, finden wir erst nach Einsetzen der Dunkelheit ein geeignetes Versteck zum Campen am Khabur, dem Grenzfluss zum Irak. Die Grenzsoldaten schließen wir rasch ins Herz. Die Soldaten freuen sich immer über die Abwechslung, die wir bringen und kochen auch gerne Tee für uns. Um eine Probefahrt mit meinem Motorrad zu machen, drückt mir ein Soldat seine Kalaschnikow in die Hand. Jetzt bin ich sicher, nicht mehr in Europa zu sein. Die Probefahrt dauert aber nicht lange, als er unter dem Motorrad liegt, ist die Fahrt beendet. Er bekommt sein Gewehr zurück und wir fahren weiter an die Grenze zum Iran.

Vor jedem Grenzübertritt liegt immer etwas Spannung in der Luft. Wird man ohne Probleme ausreisen können? Was führen die Grenzbeamten auf der anderen Seite im Schilde? Nach rund dreißig Minuten Ausreiseformalitäten stehen wir am letzten Schlagbaum, der uns noch vom Iran trennt. Der Beamte richtet seine Aufmerksamkeit vom Computerbildschirm auf uns und schüttelt den Kopf. Wir dürfen nicht ausreisen. Der Computer zeigt eine Liste von unbezahlten Strafen und offener Maut. Wir würden das ja gerne bezahlen, nur haben wir die letzte türkische Lira an der Tankstelle ausgegeben. Die Grenzbeamten sammeln für uns bei den Kollegen Geld, bezahlen unsere Strafen aus eigener Tasche und winken uns bei der Ausreise nach. Die Hilfsbereitschaft Fremden gegenüber lässt uns sprachlos werden. Ja, wir sind definitiv nicht mehr in Europa.

Auf der iranischen Seite der Grenze betreten wir eine andere Welt. Das Zollgebäude ist voll von sogenannten Fixern, das sind "Helfer", die sich händeringend um unsere Papiere bemühen. Es ist nicht möglich, die zivil gekleideten Beamten von Fixern zu unterscheiden. In einem Büro reichen wir einem vermeintlichen Beamten unsere Papiere, der damit verschwindet. Als der “Beamte” nach einer Stunde noch immer nicht auftaucht, werden wir stutzig. Trotz der Vorsicht, sind wir einem Fixer auf den Leim gegangen. Für eine “Bearbeitungsgebühr” können wir die Papiere wieder haben. Ich gerate in Rage, möchte diese Wegelagerer am liebsten erwürgen und verlasse das Zollgebäude. Matej übernimmt die Verhandlungen, zehn Dollar gehen und drei Minuten später sind wir im Iran.

Da im Iran aufgrund der Sanktionen die Geldautomaten nicht funktionieren, suchen wir eine Wechselstube auf. Unsere Augen werden groß, als der Angestellte unseren hundert Euro Schein gegen rund ein Kilo iranischen Rial Scheine wechselt. In die Hosentaschen passt der Haufen Geld nicht. Zum Glück hat Matej einen Rucksack dabei. Vollgestopft mit Geld durch eine fremde Stadt zu gehen, ist ein unangenehmes Gefühl, auch wenn das Geld nichts wert ist. Noch denken wir, das Geld beim Tanken schnell aufzubrauchen. Zuhause gehen bei der Füllung unserer zwei mal dreißig Liter Tanks leicht hundert Euro auf. Im Iran kostet der Liter Benzin nur rund 4 Euro Cent, so wenig, oft übernehmen freundliche Einheimischen für uns die Tankrechnung. Auch in Geschäften stellen wir öfter fest, ein Fremder hat heimlich für uns vorab die Rechnung beglichen. Vergleichbare Gastfreundschaft haben wir noch nie erlebt.

Etwas südlich von Tehran bekommen wir den ersten, lang ersehnten Wüstenkontakt. Die Maranjab Wüste sieht aus wie wir uns die Sahara vorstellen und grenzt im Norden an den ausgetrockneten Namak Salzsee, der sechsmal so groß wie München ist. Motorrad + Salzsee + Wüste = Megaspaß, so einfach die rasch im Kopf durchgeführte Rechnung. Kaum habe ich die Piste verlassen, liege ich schon im Sand. Matej geht es nicht viel besser, er verletzt sich sogar das Knie. Wir müssen also noch etwas üben, bevor wir die nächste Wüste in Angriff nehmen.

Nicht weit entfernt von einer Oase schlagen wir auf einem Hügel kurz vor Sonnenuntergang unser Zelt auf. Am offenen Feuer gegrillte Bratwürste und eiskaltes Bier schmecken nach einem anstrengenden Tag am Motorrad am besten, aber wir bekommen nur Thunfisch aus der Dose. Die harte Frisbeescheiben, an der wir kauen, nennt sich Brot.

Die Trassen, in denen die Pipelines an der Grenze zum Irak laufen, bieten sich an, um querfeldein die Landschaft zu erkunden. Innerhalb von Minuten sind wir von Sicherheitskräften umstellt, müssen unsere Telefone und Kameras aushändigen. Wir haben offenbar einen Nerv der ansonsten sehr freundlichen Iraner getroffen. Die Pipelines und Raffinerien mussten sie im ersten Golfkrieg mit ihrem Leben verteidigen. Wenn es um Erdöl geht, sind die Iraner dann nicht mehr ganz so freundlich.

Im April ist es noch zu kalt in den Bergen, daher ist unser initialer Plan, durch den Irak und Kuwait nach Saudi Arabien und erst dann Richtung Himalaya weiterreisen. An der Grenze zum Irak herrscht wenig Betriebsamkeit und so gut wie kein Grenzverkehr. Durch eine kleine Öffnung in einer meterhohen Wellblech-Barriere reichen wir unsere Papiere, schon sind wir im Irak, zumindest in der Grenzstation. Als uns ein Offizier entdeckt, werden wir weg vom Abfertigungsschalter in die Unterkünfte der Offiziere geführt. Abgeschirmt von der Außenwelt kommt er schnell zum Punkt und verlangt rund 600 Euro, um ein Hotel für uns zu organisieren. Das sei Gesetz. Selbstverständlich lehnen wir ab. Bakschisch in dieser Höhe kommt nicht in Frage. Der Beamte besteht auf sein Schmiergeld, schließlich hätten vor zwei Wochen deutsche Touristen ohne Probleme bezahlt. Um uns seine Überlegenheit zu zeigen, nimmt er unsere Papiere mit in sein Büro und legt sich demonstrativ schlafen.

Mir reißt der Geduldsfaden, ich gehe in sein Büro, nehme die Papiere vom Schreibtisch, wir steigen auf die Motorräder und fahren zurück zum iranischen Posten. Die iranischen Soldaten freuen sich sichtlich über unsere Rückkehr. Alle kommen zusammen und strecken vor Freude die Hände in den Himmel. Statt Bestechungsgeld zu bezahlen, um in den Irak zu reisen, haben wir uns für die Rückkehr in den Iran entschlossen! Für die Soldaten ist das ein kleiner Sieg gegen den Irak. Ein Soldat ruft lauthals “Irak - Ali Baba!” und spuckt einige Male in Richtung Irak. Extra für uns wird die bereits geschlossene Grenze nochmal geöffnet. Die Computer werden hochgefahren, ein Beamter wird hergebracht, um unsere Einreise abzuwickeln. Den um seine Freizeit beraubten Beamten kümmern unsere Papiere zunächst nicht, er kocht erst einmal Tee für uns. Es ist ein großartiges Gefühl, zurück im gastfreundlichsten Land der Welt zu sein.

Um nach Pakistan zu gelangen, beschließen wir die Lut, die heißeste Wüste der Erde zu durchqueren. Satelliten maßen dort 2016 die höchste jemals gemessene Temperatur von unglaublichen 78°C. Die Lut ist nur einige hundert Kilometer breit, auf dem Motorrad locker in zwei Tagen zu durchqueren, nur, jeder Defekt abseits der Straße kommt hier einem Todesurteil gleich. Bei der Hitze kommt man zu Fuß nicht weit. Versteckt hinter einem Bergrücken gelangen wir in die Ebene, in der die Lut liegt. Es ist wunderbar wolkenlos und angenehm warm, als sich das Display des Thermometers bei 50°C schwarz verfärbt und nie wieder etwas anzeigt. Die Straße führt schnurgerade zum Horizont, dort angekommen, führt sie schnurgerade zum Horizont, danach schnurgerade weiter zum Horizont, dann weiter, und weiter. Absolute Stille und kein Lebewesen weit und breit, nur Sand so weit das Auge reicht. Fahren mit Schutzausrüstung ist bei der Hitze undenkbar, man würde an einem Hitzschlag sterben.

Noch nie haben wir so unberührte Weiten gesehen. Anfänglich hatten wir Sorge ob unsere Motoren der Hitze standhalten werden. Am Nachmittag stellte sich heraus, nicht die Motorräder sind unsere Schwachstelle, sondern wir. Wir sind völlig am Ende. Die einzige in der Karte eingezeichnete Tankstelle ist lange geschlossen und unser 12 Liter Vorrat an Wasser ist aufgebraucht. Erschöpft liegen wir fast nackt für einige Zeit unter dem Vordach der geschlossenen Tankstelle, dem einzigen Schatten im Umkreis von hundert Kilometern.

Zum Schlafen benötigen wir kein Zelt, die Matte aufgerollt neben dem Motorrad reicht. Endlose Erleichterung durchströmt uns, als am nächsten Tag die erste Ortschaft nach der Wüste auftaucht. Wasser, endlich Wasser. Vom Essen reden wir eher nicht, es ist Ramadan. Der Magen knurrt oft lauter als unsere Motoren. Tagsüber sind sämtliche Restaurants und Geschäfte geschlossen. Heimlich essen wir Brot und Thunfisch bis am Abend wieder Kebab auf den Tisch kommt.

Kurz vor der pakistanischen Grenze werden wir in Zahedan in die größte Moschee der Stadt zum Brechen des Fasten zum „Iftār“eingeladen. Als Atheist mit tausenden Gläubigen in einer Moschee die heiligste Zeremonie des Jahres durchzuführen, fühlt sich nicht richtig an. Ich fühle mich deplatziert. Als sich alle Gläubigen auf dem Gebetsteppich verneigen und wir wie Salzsäulen in der gewaltigen Menge herausragen, möchte ich im Erdboden versinken. Das Gebet dauert glücklicherweise nur wenige Minuten, schon werden Tischtücher, die von einem Ende der Moschee zum Anderen reichen, ausgerollt. Auf Kommando stürzen sich alle auf das ausgeteilte Brot. Ramadan ist endlich vorbei!

Die Pakistanische Grenze finden wir verschlossen vor, ein gewaltiges Gittertor verhindert die Weiterfahrt. Was wir nicht wissen, dem Ramadan folgen drei Tage „Eid al-Fitr", an denen kein Pass abgefertigt, sondern nur gegessen wird. Nach einer Nacht an der Grenze haben die Grenzsoldaten Einsicht und bringen einen Beamten in die Station, um uns ausnahmsweise abzufertigen. Nach den Grenzformalitäten bringt uns eine Eskorte zur Polizeistation in Taftan, der nächsten Ortschaft. Wir sind nicht nur erleichtert, es nach Pakistan geschafft zu haben, wir sind aufgeregt, das Leben auf einer pakistanischen Polizeistation, bei den “Levis”, hautnah mitverfolgen zu können. Levis bezeichnen sich hier die Polizisten.

Die Levis sind besonders nett, lassen uns in einem kleinen Büro ein Lager errichten, führen uns durch die Station, scherzen und präsentieren immer stolz die Kalashnikovs. Am Abend bereitet ein Polizist für die gesamte Station das (undefinierbare) Abendessen in einer großen Pfanne zu. Wie in einer Familie kommen zum Essen alle zusammen, auch die Gefangenen, die dafür aus den Zellen freigelassen werden. Versammelt um die Pfanne nehmen alle mit einem Stück Fladenbrot das Essen aus der Pfanne und trinken dazu reichlich Tee.

Noch ahnen wir nichts von dem bevorstehenden, fast zwei Wochen langen Martyrium, in dem wir von Polizeistation zu Polizeistation durch das Land weitergereicht werden. Von der bevorstehenden rund 700 km langen Polizeieskorte entlang der afghanischen Grenze wissen wir. Angeblich dürfen wir uns zu unserem eigenen Schutz in dem Gebiet nicht frei bewegen. Erst als wir in Quetta in einem Hotel unter Bewachung drei Tage eingesperrt sind und zum Verhör durch die Geheimpolizei geladen werden, wird uns der wirkliche Zweck der Eskorte klar. Ein Tourist braucht kein Verhör, keine Eskorte, ein verdächtiger Ausländer schon eher.

Unendlich erleichtert sind wir, als wir nach dem Verhör einen “Freibrief” erhalten und wir ohne Eskorte weiterreisen dürfen. Unser Ziel ist Islamabad, konkret die indische Botschaft. Noch haben wir kein Visum für unsere Weiterreise nach Indien. Bei der Indien-Visa-Agentur in Islamabad erscheinen wir ausgerüstet mit Antrag, Passkopien, Fotos und genügend Geld. Zu unserem Antrag wird uns noch ein leeres Blatt Papier für ein Motivationsschreiben gereicht. In schöner Prosa sollen wir erklären, warum wir nach Indien reisen wollen. Matej verbietet mir aufzuschreiben, dass ich gerne Durchfall hätte, wie es ihn nur in Indien gibt. Es hätte ohnehin nicht gestimmt, auch in Pakistan kann man Lebensmittelvergiftung bekommen, die man so schnell nicht vergisst. Wir einigen uns die schönen Berge als Motivation anzuführen, geben den Antrag ab und werden angewiesen, in zwei Wochen wiederzukommen.

Endlich können wir unseren Traum verwirklichen, dem Karakorum Highway bis an die Grenze von China zu folgen. Bisher war ich von Pakistan eher enttäuscht und wünsche mir, insgeheim so rasch wie möglich nach Indien weiterzukommen, doch als sich nach Gilgit die Berge entlang des Hunza Flusses auftürmen, sind alle Anstrengungen wieder vergessen. Die Straße ist eingefasst von mächtigen Gipfeln, die sich zum Angreifen nahe entlang des Highways aufreihen. Unser pakistanischer Freund Salman, ein Tourguide der uns schon beim Visa geholfen hatte, rät uns auf dem Weg nach Norden, nicht nur dem Hunza Fluss bzw. dem Karakorum Highway zu folgen. Es ist ein Muss, auch das Shimshal Valley zu durchfahren. Ich kann mir schwer vorstellen, dass der Karakorum Highway noch zu toppen ist.

Nach kurzer Suche finden wir die unscheinbare Schotterpiste, die in das Shimshal Tal führt. Der Shimshal Fluss hat ein rund 75 km langes, einsames Tal in den Karakorum geschnitten. Die Piste scheint per Hand in den steilen Fels geschlagen. Einige der behelfsmäßig errichteten Brücken sind weggeschwemmt. Um ans Ende des Tals zu kommen müssen wir einige Male auch durchs Wasser. Als die Sonne hinter den Gipfeln verschwindet, wird es saukalt und ich bin nicht mehr sicher, was uns hierher verschlagen hat. Als wir am nächsten Tag bei blauem Himmel vor dem mächtigen Khurdopin Gletscher stehen, ist die Kälte wieder vergessen.

Je näher wir zur chinesischen Grenze kommen, desto weniger wird der Verkehr. Verkehr ist der falsche Ausdruck, wir sind seit Ewigkeiten alleine unterwegs, was kein Wunder ist, die Grenze ist seit Covid gesperrt. Auf rund 4.700 Hm erreichen wir den Khunjerab Pass, den höchsten asphaltierten Grenzübergang der Welt, umgeben von leicht angezuckerten Gipfeln. Die einsamen Grenzbeamten freuen sich über die Abwechslung, endlich wieder Ausländer zu treffen und laden uns in ihre Hütte auf Tee ein. Die Hütte ist nur ein kleiner, vielleicht 15 m² großer Raum, mit einem kleinen Holzofen und zwei wackeligen Holzbetten. Als ich mich mit der Tasse Tee auf eines der Betten setze, starre ich auf die teerschwarzen Wände. Vermutlich muss man Jahrzehnte rauchen, um die Wände tiefschwarz zu färben. Der Beamte versichert mir, in seinem Leben noch nie Tabak geraucht zu haben und zieht aus seiner Jackentasche ein beachtliches Paket Hanf.

Wieder zurück am Zusammenfluss des Hunza Flusses mit dem Indus biegen wir in das Indus-Tal ab. Das Tal trennt den Karakorum vom Himalaya. Wir sind aber nicht wegen des Indus hier, uns plagt seit Beginn der Reise die Frage, kann man einen 8.000er wie den Nanga Parbat oder auch Mt. Everest mit dem Motorrad erreichen? Fünf der vierzehn 8.000er Berge befinden sich hier im Norden von Pakistan in unmittelbarer Nähe. Einheimische geben an, die Straße zum Nanga Parbat sei nur mit Führer und speziellen Jeeps zu bewältigen. Wir stimmen den Einheimischen nicht zu und denken insgeheim, wo ein Jeep fahren kann, kann es eine Enduro noch viel besser.

Früh am Morgen, als alle noch schlafen, steht der Schlagbaum, der die Zufahrt zur Fairy Meadows Road und zum Nanga Parbat sperrt, offen. Schon auf den ersten Metern stellen wir fest, warum die Fairy Meadows Road als eine der gefährlichsten Straßen der Welt gelistet ist. Im unteren Bereich machen große Steine das Fahren schwer, weiter oben ist es eher die Psyche. Man muss schon eine Ladung Vertrauen in sein Fahrzeug und auch etwas Fahrkönnen mitbringen, um im losen Geröll entlang der senkrechten Felswände entspannt zu fahren. Nach nur zwei Kilometer fahre ich mir an einem der spitzen Steine den Vorderreifen platt. Um leichter zu reisen habe ich natürlich sämtliches Werkzeug in der Unterkunft im Tal gelassen. Die nächsten zehn Kilometer fahre ich ohne Luft weiter.

Die Piste wird immer schmaler und endet schließlich an einer kleinen Teehütte, einer Station für Bergsteiger. Wir lassen die Motorräder zurück und nehmen die letzten Höhenmeter zu Fuß in Angriff. Wie in Zeitlupe ziehen die Wolken über den 8.126 m hohen Gipfel des Nanga Parbat. Wir sind im Himmel, nein, konkret sind wir nur auf der Märchenwiese auf 3.300 Hm angekommen und ein Gewitter zieht hinter uns auf. Sofort lassen wir alles liegen und stehen und hasten den Berg hinab zu unseren Motorrädern. Uns schaudert vor dem Gedanken, eine der gefährlichsten Straßen der Welt im Gewitter fahren zu müssen. In der Nähe der Hütte finden wir ein Stück Eisen, das wir als Reifenmontiereisen verwenden können, der Hüttenwirt hat zufällig eine Luftpumpe. Mit der Hilfe der Einheimischen flicken wir meinen Schlauch und schaffen es vor der Dunkelheit zurück ins Tal. Erschöpft, aber glücklich, sitzen wir nach Sonnenuntergang am Indus, löffeln undefinierbares Essen aus einer Pfanne, trinken Wasser (Bier gibt es in Pakistan eher nicht) und sind glücklich, den Tag überstanden zu haben.

Zurück in Islamabad ist unser erster Weg in die Visa-Agentur, doch dort gibt es noch keine Rückmeldung von der Botschaft. Das Indien-Visa ist essentiell für unsere Weiterreise. Wir nehmen unser Visa-Glück selbst in die Hand. An der Botschaft geben wir an, von der Visa-Agentur geschickt worden zu sein, um Vorsprechen zu können. Der Trick gelingt. Der Visa-Bearbeiter der indischen Botschaft ist zwar über unser Erscheinen verblüfft, da nur Anträge von Visa-Agenturen entgegengenommen werden. Da wir aber angeben von der Agentur zu kommen, macht er eine Ausnahme, stellt kurz die Frage, ob wir uns eine Reise nach Indien überhaupt leisten können, und gewährt am Ende das Visa.

HURRA - Wir werden die ersten sein, die seit Covid wieder mit dem Motorrad überland nach Indien reisen! Wir wollen feiern, aber irgendwie will keine Feierstimmung aufkommen. Die Straßen von Islamabad werden an dem Tag mit großen Containern abgesperrt. Der frühere Premierminister Imar Khan will die aktuelle Regierung stürzen. Langsam füllen sich die Straßen mit Oppositionellen die in Richtung Regierungsviertel marschieren. Nach einem Monat ist es an der Zeit, Pakistan zu verlassen.

Am einzigen Grenzübergang nach Indien trennen zwei gewaltige Gittertore die beiden Länder. Wir stehen mit unseren Motorrädern genau zwischen den Toren. Die Beamten beider Länder überprüfen nochmal unsere Papiere, bevor sie uns freie Fahrt geben. Auf der Geraden zum Zollgebäude auf der indischen Seite geht mein Grinsen bis zu den Ohren. Ein langersehnter Traum ist gerade in Erfüllung gegangen. Wie meinem Idol, der Abenteurer Max Reisch auf seiner 250er Puch im Jahr 1933, war es auch uns gelungen, auf dem Landweg von Europa nach Indien zu gelangen.

Indien, Luxus pur! Bisher dachte ich immer, Indien sei ein armes Land, doch nach der Einreise aus Pakistan denken wir überall Luxus in Form von Autos, Restaurants oder Mc Donalds zu sehen. Angekommen in der ersten großen Stadt in Indien, in Amritsar, fühlen wir uns noch lange nicht am Ziel. Zwischen Amritsar und unserem Ziel am Mt. Everest liegen noch einige tausend Kilometer Himalaya. Genau wie man es sich im (fast) bevölkerungsreichsten Land der Erde vorstellt, reicht die Menschenmenge der Fußgängerzone in Amritsar zum Horizont. Ein Anblick freut uns in der Menge besonders. Bunt gekleidete Frauen spazieren fröhlich zum Shoppen durch die Mall. In Pakistan bekamen wir keine fröhlichen Frauen zu sehen, eigentlich kann ich mich überhaupt an keine Frauen in Pakistan erinnern.

Sightseeing am heiligen Tempel von Amritsar ist nicht unser Ding. Wir sind ausschließlich zum Motorradfahren unterwegs. Unverzüglich nehmen wir Fahrt Richtung Norden auf. Wir steuern Srinagar in den Bergen von Kaschmir, dem Tor zum Himalaya, an. An einigen Stellen ist die Straße so baufällig, Abbruchkanten ragen bis in die Fahrbahnmitte. Die schlechte Straße ist aber nicht das Problem, herausfordernde Bergstraßen sind die Freunde von Motorradfahrern. Wir kämpfen gegen tausende schwer überladener LKWs, die Schritttempo die Berge hinaufrollen. Unerlässlich stoßen sie dabei dichte Rußwolken aus. LKWs stehen in Indien ganz oben auf der Vorrangpyramide, Motorräder ganz unten. Nachdem einige ignorante LKW-Fahrer uns trotz steiler, ungesicherter Hänge fast von der Straße drängen, nennt Matej die Chauffeure nur noch “Mörder”. Ich vermute, dass die Medizin gegen Höhenkrankeit mit der relaxten Fahrweise der LKW Lenker zu tun hat. Gäbe es bei uns Straßen in der Höhe, würden wir wohl mit Zirberl und Zwetschkerl behandeln, in Indien verwendet man Whisky.

Am Srinagar - Leh Highway kommt erstmals richtiges Himalaya-Feeling auf. Die alten Bauwerke entlang der historischen Handelsroute vermitteln den Eindruck, bereits in Tibet zu sein. Wir haben keine Zeit, um den Anblick zu genießen. Matejs Motorrad geht auf über 3.000 Hm, mitten im Nirgendwo, in den Notlauf und fährt, wenn überhaupt, nur im Schritttempo. Den ganzen Tag verbringen wir erfolglos damit, am Straßenrand den Fehler zu suchen. Als es zu dämmern beginnt und erster Schneefall einsetzt, beschließen wir, es ist besser, im Schritttempo weiterzukommen, als zu erfrieren. Statt eines entspannten Tages benötigen wir zwei nervenaufreibende Tage bis nach Leh.

Nach zwei Tagen geduldiger Fehlersuche, in denen wir jedes einzelne Teil zwischen den Motorrädern hin und her tauschen, finden wir den Fehler im Kabelbaum. Wenn du dich schon einmal gefragt hast wie das Gasseil bei Ride-By-Wire aussieht, konkret ist es ein weiß-rotes Kabel, bricht dieses, ist dein Ride vorbei. Schuld an dem Bruch des Kabels war eine schlecht verbaute Lenkererhöhung.Schon wieder gelernt: Pfusch an den originalen Motorrädern nicht rum!

Überall in der kleinen, auf 3.500 Hm liegenden Stadt, warnen Plakate Touristen, vor der Höhenkrankheit. Es gibt sogar ein neues Gesetz, das angekommenen Touristen für 48 Stunden untersagt, weiter auf die Berge zu fahren. Als wir dort ankommen, gibt es bereits 15 Todesfälle in der neu angelaufenen Saison. Während ich draußen am Motorrad arbeite, klopft es hektisch an Matejs Zimmertür. Die Hotelbesitzer holen Matej zu Hilfe, unsere Zimmernachbarin liegt regungslos im Bett. Mit vereinten Kräften schleppen sie die Frau die Treppen hinunter, setzen sie in ein wartendes Taxi, welches sie sofort in die Notaufnahme bringt. Als wir aus Leh abreisen, ist die Zahl der Todesfälle auf 16 gestiegen.

Über einen der höchsten Pässe der Welt, den rund 5.300 m hohen Khardung La, möchten wir ins dahinter liegende Nubra-Tal, in jenes Gebiet, in dem China, Pakistan und Indien zusammentreffen. Wir möchten herausfinden, ob es uns gelingt, einen Blick auf den K2, den zweithöchsten Berg der Welt, zu erhaschen. Soviel vorweg, nein, obwohl wir bis auf 100 km an den K2 rankommen, können wir den K2 von Indien aus nicht sehen. Bei einer kleinen Mahlzeit an der pakistanische-indischen Grenze wird uns bewusst, wie absurd unsere Route eigentlich ist. Fast einen Monat und tausende Kilometer waren wir unterwegs, nur um jetzt auf der anderen Seite der pakistanisch-indischen Grenze zu stehen. Auch der Nanga Parbat ist hier im Nubra-Tal wieder zum Greifen nahe, aber aufgrund der politischen Situation unerreichbar.

Dass wir den K2 nicht zu sehen bekommen, ist uns im Moment egal. Wir folgen im vielleicht schönsten Tal der Welt dem Nubra und Shyok Fluss. Auf über 3.000 Hm durchqueren wir nicht nur eine kleine Sandwüste, sondern beobachten die dazugehörige Kamelkarawane inklusive Touristenkarawane - fast wie in Marokko. Die atemberaubende Landschaft führt weiter bis ans östliche Ende von Ladakh, wo wir auf 4.300 Hm einen gewaltigen, tiefblauen See entdecken. Der leblose Pangong See wirkt wie eingebettet in eine Marslandschaft. Der See ist so entlegen, hier höhenkrank zu werden, kommt einem Todesurteil gleich. Wir beschließen, gesund zu bleiben - wie viel Whisky müssen wir dafür trinken? Das nächste Krankenhaus ist 20 Fahrstunden entfernt, um dieses zu erreichen, gilt es den rund 5.400 Meter hohen Chang La Pass zu überqueren. Man ist also gut beraten, sich Zeit für die Akklimatisation zu gönnen.

Für die Nacht finden wir eine kleine Hütte auf einem kleinen Vorsprung mit einem wunderbaren Blick auf den See. Nach Sonnenuntergang ist die schöne Aussicht sofort vergessen, es wird saukalt, richtig saukalt. Durch die dünne Luft funktioniert die Durchblutung nicht richtig. Wir frieren trotz drei Lagen gut gebrauchter Decken und bekommen unnötigerweise auch noch Kopfweh. Als wir uns am elendsten fühlen, zieht Matej eine Flasche indischer Medizin aus der Tasche, Whisky von der billigsten Sorte, genau wie ihn die Einheimischen bei der Höhenkrankheit einnehmen. Die restliche Nacht ist nicht mehr so schlimm.

Die berühmteste Straße des Himalaya, der Manali-Leh Highway, war früher nur über den Rohtang-Pass, dem “Leichenberg”, zu erreichen. Seit 2020 gibt es einen Tunnel, der die Hochebene bequem mit dem Rest von Indien verbindet. Früher durfte man hier ehrenhaft durch einen spektakulären Sturz in eine der tiefen Schluchten ins Jenseits übertreten. Heute sind Tausend betrunkene Taxifahrer die größte Gefahr entlang der Strecke. Um Richtung Nepal weiterzureisen,nehmen wir nicht den einfachen Weg durch den Tunnel, sondern folgen der tibetischen Grenze im Spiti-Valley. Das Tal zählt zu den am wenigsten bevölkerten Regionen Indiens und bleibt im Winter fast ein halbes Jahr von der Außenwelt abgeschnitten. Asphalt oder Handyempfang - Fehlanzeige.

Als Ausländer benötigt man eine besondere Genehmigung, so nahe an der tibetischen Grenze reisen zu dürfen. Belohnt wird man für den bürokratischen Aufwand mit wunderbarer Berglandschaft bei fast leeren Straßen. Steht man bei den Gebetsmühlen hoch über der Ortschaft Nako, blickt man nicht nur hinab auf einen wunderbaren Bergsee, sondern auch auf die tausend Meter weiter unten im Tal verlaufende Straße, der wir tagsüber folgen. Dreht man sich um, hat man freien Blick auf die endlose Berglandschaft Tibets. Da die Weiterreise durch Tibet nicht möglich ist, verlassen wir den Himalaya Richtung Süden, um nach Nepal zu gelangen.

Da es den Engländern zur Kolonialzeit im Flachland zu heiß war, verlegten sie die Regierung im Sommer in das auf rund 2.000 Hm gelegene, rund 100.000 Seelen Städtchen Shimla. Denkt einer der 1.4 Milliarden Inder an Urlaub, will er genau nach Shimla. So ist unser Eindruck, als wir einen Tag lang versuchen, Shimla zu durchqueren. Meidet Shimla!

Mein Scheinwerfer blickt auf den heiligen Ganges, der „Mutter Indiens“, der gemächlich, wie in Zeitlupe vor uns fließt. Immer wollte ich schon im Ganges baden und einen großen Schluck aus dem heiligen Fluss nehmen - Blödsinn. Google hat uns falsch navigiert! Blind waren wir der Navigation sogar über Stufen hinab zu den Ghats von Haridwar gefolgt. Die Ghats sind die heiligen Badestellen am Ganges, an denen auch die Leichenverbrennungen stattfinden. Das Display zeigt “Angekommen am Hotel Ganga Rani”! Ich sehe aber nur tausende Gläubige, einige bekiffte Sadhus, Kühe, den Ganges, aber kein Hotel. Noch nie fühlte ich mich so deplatziert wie in diesem Moment. Die Fahrt zum Hotel ist wie eine Fahrt durch die Menschenmenge am Münchner Oktoberfest, kurz vor der Sperrstunde, nur schlimmer. Total abgekämpft gelangen wir eine Stunde später in das nur hundert Meter entfernte Hotel. Vom Ganges haben wir die Schnauze vorerst voll und nehmen ein Taxi, das uns zehn Kilometer außerhalb der Stadt ins Reha-Zentrum Mc Donalds bringt.

Die Grenzbeamten des Übergangs Banbasa nach Nepal sind die nettesten der gesamten Reise. Die Einreise dauert inklusive obligatorischen Reifenflicken rund drei Stunden, in denen wir Melonen, Tee und auch gratis Internet bekommen. Apropos Reifenflicken. Die Reifen treiben mich zur Verzweiflung. Nach der Grenze flicke ich den Platten Nummer 14, 15 und 16. Die mitgebrachten Kautschuk-Flicken halten nicht auf den Butyl-Schläuchen. Es ist zum Verzweifeln. Wer das Reifenflick lernen möchte, sollte genau mit dieser Butyl-Schlauch und Kautschuk-Flicken Kombination auf Tour gehen.

Nach den Anstrengungen bei der Durchquerung von Indien atmen wir in Nepal richtig auf. In Indien hatte ich schon fast vergessen, wie erholsam Motorradfahren sein kann. In Nepal herrscht so gut wie kein Verkehr und die Landschaft ist wunderbar grün. Statt dem unablässigen Überlebenskampf im indischen Verkehr kann man hier gemütlich durch die Landschaft gleiten und den Moment genießen, zumindest bis man in die Nähe von Kathmandu kommt.

Kathmandu liegt, eingefasst von verhältnismäßig niedrigen Bergen, auf einer Höhe von 1.400 m. Wie auch in Indien kämpfen sich unzählige LKWs bzw. Rußschäudern im Schneckentempo hinauf zur Hauptstadt. Das Verkehrschaos in Kathmandu steht dem in indischen Städten um nichts nach. In einer kleinen Nebenstraße von Thamel, dem Touristen-Hub von Kathmandu, finden wir eine ruhige Unterkunft, um die letzte Etappe unseres Abenteuers vorzubereiten.

Als ich am Silvesterabend meinen Freunden von dem Plan mit dem Motorrad zum Mt. Everest zu fahren erzähle, erhalte ich fast uneingeschränkte Zustimmung. Nur mein Freund Sam verstummt, er studiert auf dem Handy die Karte. Nach fünf Minuten sagt er mit verwirrtem Gesichtsausdruck: “Mario, dorthin gibt es keine Straße.”. An dem Abend ist mir seine Anmerkung egal. Schlechte Vorbereitung ist eine solide Basis für Abenteuerreisen. Vernunft macht das größte Abenteuer kaputt. Endlich finde ich Zeit die Karte im Detail zu studieren und stelle fest, mein Freund Sam hatte damals recht.

Es ist Juni, wir sind mitten in der Regenzeit. Kein vernünftiger Tourist geht jetzt im Himalaya spazieren. Vernünftige Leute kündigen auch nicht ihre Jobs, um mit dem Motorrad nach Kathmandu zu fahren. Laut Karte müssen wir nur rund 300 km Richtung Osten fahren, bis irgendwo in den Bergen, rund 60 km Luftlinie vom Everest entfernt, die Straße endet.

Eine Anreise von dreihundert Kilometer hört sich nicht viel an, wenn nicht Monsun wäre. Wir müssen die Motorräder über abgegangene Muren und vorbei an weggespülten Brücken durch das Wasser manövrieren. Über 2000 Hm wird der Regen eiskalt. Am Ende kämpfen wir uns mühsam Meter für Meter durch den knietiefen Dreck. Für die letzten zehn Kilometer von Basanta Basar nach Phea benötigen wir fast den ganzen Tag.

Schließlich reicht es uns, wir kommen nicht mehr voran, beschließen die Motorräder an einer Hütte zurückzulassen und die letzte Etappe zu Fuß in Angriff zu nehmen. Nach 20.000 km auf dem Motorrad trennen uns nur noch 60 km zum Everest. Die paar Kilometer können kein schweres Unterfangen mehr sein - falsch gedacht. Es hat einen Grund, warum alle Bergsteiger mit dem Flugzeug und nicht mit dem Motorrad zum Everest kommen. Die Hänge der Berge sind wesentlich steiler als erwartet. Den ganzen Tag müssen wir steile Hänge hinunter und wieder hinaufsteigen. Tausend Höhenmeter hinunter und tausend wieder hinauf, den ganzen Tag lang - bei Regen. Irgendwann meldet sich bei Matej die Knieverletzung zurück, die er sich schon im Iran, in der Maranjab Wüste, zugezogen hatte. Matej muss sein Knie schonen und entscheidet sich der Familie in einer Hütte auf meine Rückkehr zu warten.

Mir bleibt nichts anderes übrig und laufe jeden Tag ununterbrochen von Sonnenauf.- bis Sonnenuntergang alleine. Die Berge sind so steil, so hoch, pro Tag schaffe ich nur zehn Kilometer näher an Mt. Everest zu kommen. Um die tiefgrünen Wälder, die Tempel oder abenteuerlichen Hängebrücken zu genießen, fehlt mir ehrlich gesagt der Geist. Und eine Tasse Tee am Ende eines anstrengenden Tages, motiviert auch nicht besonders. Wie in Trance laufe ich tagein, tagaus sechs Tage lang. Am Morgen des sechsten Tages verschwinden wie von Geisterhand die Regenwolken. Unter strahlend blauem Himmel taucht hinter einer Geländekante die 7000er Kette der Nuptse Berge auf. Hinter dem 7742 m Nuptse Nup II Peak, blickt nach genau hundert Reisetagen Mt. Everest auf mich herab. Von Glück (oder Erschöpfung) durchströmt, setzte ich mich auf einen Stein und starre eine Stunde lang auf die Gipfel (und grinse vermutlich doof). Einerseits bin ich erleichtert, es geschafft zu haben, andererseits warten 60 km Rückmarsch auf mich.

Während wir gemütlich wie auf Sommerfrische durch die Berge spazierten, organisierte unser Freund Sabin von Eagle Exports in Kathmandu bereits den Rücktransport der Motorräder. Am Tag unserer Rückkehr nach Kathmandu stehen am Flughafen die Transportkisten und eine Gruppe Helfer bereit. Das Zerlegen und Verpacken der Motorräder dauert nur eine Stunde. Zehn Tage später stehen die Kisten unversehrt am Flughafen von Wien. Unvergesslich bleibt - das erste Schnitzel.
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon lallemang » Mo 06 Feb, 2023 16:44

Geil :D

Danke für den Bericht :super:
Wherever You Go There You Are :gruebel:
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon fleisspelz » Mo 06 Feb, 2023 16:48

Whow! :respekt: und :danke:
..........................
Ich bin kein Optimist. Es ist halt nur so, dass mein Pessimismus resigniert hat …
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Dreckbratze » Mo 06 Feb, 2023 17:06

Großartig!!! Danke, danke, danke für den wunderbar verfassten Bericht und meine Hochachtung eine solche Reise textmäßig so runter zu kürzen und ihn immer noch so interessant und bunt zu gestalten!
Gerade weil du das so klasse gemacht hast, noch ne kleine Klugscheißerei: Visa ist Plural, Singular wäre Visum :wink:
Nochmal ganz herzlichen Dank fürs Teilen!
Und, findest du dich wieder im Alltag zurecht?
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon lut63 » Mo 06 Feb, 2023 18:21

Servus Mario - schön, dass ihr wieder heil
zurück seid.
Dank für den komprimierten Bericht und
die Büdln.

Gruß aus dem
SüdOsten
Auch Männer aus Stahl gehören einmal zum alten Eisen
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Herbert H » Mo 06 Feb, 2023 19:09

Super Berichtet, schön wieder von dir zu Lesen!!
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon andi » Mo 06 Feb, 2023 19:41

Danke für den Bericht war schön da mit zu reisen.
Andi
erfolgloser Russenkurbelwellenfeinwuchter,
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Uwe Steinbrecher » Mo 06 Feb, 2023 20:16

Wauschi hat geschrieben:Kaum habe ich die Piste verlassen, liege ich schon im Sand. Matej geht es nicht viel besser, er verletzt sich sogar das Knie.

Wird das bei dir zur schlechten Angewohnheit mit den kaputten Knien der anderen? :wink:
Einen wunderbaren Bericht hast du da geschrieben! Das macht große Lust mal wieder selber loszuziehen!
...und den Spruch, was eine Abenteuerreise garantiert, klaue ich mir für meine Signatur :fiessgrinz:
„Schlechte Vorbereitung ist eine solide Basis für Abenteuerreisen.“
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Klaus P. » Mo 06 Feb, 2023 20:41

Ich schnapp nach Luft.

Gruß Klaus
Klaus P.
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon superknuffi » Mo 06 Feb, 2023 21:40

:smt005 Beeindruckend
Kurzweilig
Spannend
Lebendig
Mitreißend
Kurz und gut...
Ein journalistischer Traum.
Schreib ein Buch Alter, ich kaufs...
War auch Mal in Kathmandu und in Pokhra, aber aus der anderen Richtung :smt005
Danke Danke Danke und schade dass der Abenteurer Spruch schon geklaut wurde.
Stefan
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Uwe Steinbrecher » Mo 06 Feb, 2023 22:03

superknuffi hat geschrieben:Schreib ein Buch Alter, ich kaufs...

:smt005
Hat er schon.
2 mal
https://smile.amazon.de/Ab-nach-S%C3%BC ... 108&sr=8-1
https://smile.amazon.de/Ab-den-Himalaya ... 108&sr=8-2
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Myke » Di 07 Feb, 2023 07:19

ich denke, er muss nochn paar von denen schreiben :wink: :grin:
let there be rock !
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Wauschi » Di 07 Feb, 2023 08:52

Der Text war für mich eine Woche Arbeit, daher freue ich mich besonders über eure ermutigenden, positiven Rückmeldungen.
Ich bin mit der deutschen Sprache nicht so bewandert, deshalb freuen mich eure Zeilen umso mehr. (Wie viele von euch, bin auch ich immer in der letzten Reihe gesessen und hatte anderes im Kopf als Deutsch...)

Gruß,
Wauschi
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Re: Reisebericht Graz --> Mt. Everest

Beitragvon Dreckbratze » Di 07 Feb, 2023 09:07

Es gibt Leute, die mit der Sprache ihr Geld verdienen und die nicht halb so gut und unterhaltsam schreiben!
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