Reisebericht: USA - Feuerland

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Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Wauschi » Fr 08 Mär, 2024 09:38

Von unterwegs zu berichten fällt mir schwer, daher war mein Fred zur Herbstausfahrt etwas verwirrend.

Wie versprochen hier ein besserer Bericht in drei Teilen.

Gruß,
Wauschi
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Wauschi » Fr 08 Mär, 2024 09:43

Endlich, Sonnenstrahlen wärmen das feuchte Zelt. Es ist saukalt, doch die erste Nacht meiner Reise nach Feuerland habe ich trotz Starkregen trocken überstanden. Aber irgendwas stimmt nicht. Mein Motorradhose liegt vor dem offenen Zelt, daneben meine leere Geldbörse. Mutter hat immer gesagt: „Bua, Südamerika ist gefährlich!“. Doch, dass ich schon in der ersten Nacht auf dem Campingplatz mitten in Bayern bestohlen werde, hätte ich nie gedacht. Auf der Fahrt zum Flughafen München quält mich die Frage: “Wie konnten Diebe hier in Deutschland unbemerkt fast 50 Zelte ausräumen?“. Spoiler: Der Vorfall bleibt zum Glück der einzige entlang der noch 28.000 km nach Feuerland.

Angekommen in Kalifornien, ist der Vorfall fast vergessen. Als Raj, mein Freund in San Diego, die Garage öffnet und ich das erste Mal meine 690er Enduro zu sehen bekomme, spüre ich Adrenalin statt Blut in meinen Adern. Die Idee, mit einer leichten Enduro von den USA bis Feuerland zu fahren, stammt von meinem Freund Peter. Zunächst stand ich der Idee noch zögerlich gegenüber. Zu lebhaft sind noch die Erinnerungen an die Südamerika Tour mit meiner Frau, Martina. Eine grandiose Idee, allerdings haben es die China-Moped spannender gemacht, als uns lieb war. Peter schafft es, mich weichzukochen. Ich stimme dem Abenteuer unter einer Bedingung zu: Wir vermeiden die ausgetretenen Touristenpfade, wir fahren OFFROAD!

Peter treffe ich das erste Mal in Calexico, der mexikanischen Grenze. Er hatte seine 690er in Arizona für das Abenteuer vorbereitet. Ohne Umwege steuern wir den Einstieg für die „Baja 1000“ an, einer der längsten und härtesten Rallys der Welt. Die Baja genießt, ähnlich wie die Dakar, den Ruf des härtesten Offroad-Rennens der Welt. Als wir am Einstieg in die Strecke stehen und wir bis zum Horizont nur Schotter sehen, kann mich nichts halten – Vollgas! Die KTM ist großartig, das agilste Motorrad seiner Klasse - würde nicht ich drauf sitzen. Mein prächtiger Bauch und das schwere Gebäck lasten merkbar auf dem Fahrwerk. Andes formuliert, ich reite wie auf einer schwangeren Kuh durch die Landschaft. Es dauert einige Kilometer bis ich mich an das nicht abgestimmte Fahrwerk gewöhne, danach bin ich nicht mehr zu halten.

Die Baja scheint mit jedem leichten Motorrad bezwingbar zu sein, bis wir auf die Spuren von Hilary treffen. Der Tropensturm „Hilary“ tötet kurz vor unserer Ankunft nicht nur Menschen, Sturzbäche verwandeln einige Streckenabschnitte in tief zerklüftete Marslandschaften. Wie schwer an einigen Stellen die Verwüstung ist, wird mir bewusst, als sich Peter formschön in die Landschaft integriert. Die Baja ist daher auch eine Prüfung für unsere Fahrkünste. Meist können wir die tiefen Auswaschungen überspringen, nur wenn wir sie übersehen, fressen sie Motorrad samt Fahrer. Fast zwölf Stunden benötigen wir von der Ortschaft Ejido Vall Tranquilo ins nur 29 km entfernte El Rosario.

Die Landschaft wechselt teilweise abrupt von trockenen Wüsten zu malerischen Küstenstreifen mit gewaltigen Kakteen. Einer der bei Surfern beliebtesten Küstenstreifen ist bei San Juanico. Bis zum letzten Meter fahre ich an die Klippen, als ich am Hinterreifen das Zischen der Hölle vernehme: „ssssssss…“. „Geh leck mi in Oarsch!“ (Deutsch: „Oh, wie unangenehm!“) Irgendwas steckt im Reifen, die Luft geht aus. Den Rest des Tages versuche ich bei 40°C mit geschätzt 20 Flicken immer wieder den Reifen zu flicken. Am Ende setze ich einen neuen Schlauch ein.

Auf Mexikos wechselhafte Landschaft mit Bergen, Wäldern, Wüsten und wunderbar einsamen Stränden sind wir nicht eingestellt. Und auf Camping auf moskitoverseuchten Sandbänken bei 40°C auch nicht. Gut, dass ich meinen dicken Daunenschlafsack mithabe. Selbst um Mitternacht schwitze ich im Zelt wie ein Schwein und außerhalb werde ich von Blutsaugern gequält. Camping im idyllischen El Portezuelo Nationalpark am Golf von Kalifornien hatte ich mir anders vorgestellt.

Ein Pluspunkt - ich rede nicht von Highlight - von Mexico gegenüber anderen mittelamerikanischen Ländern sind die Taco-Buden. In jeder kleinen Ortschaft findet man diese typischen Essensstände. Das Praktische am Essen in Mexiko ist, egal ob man Tacos, Chiles oder Enchiladas bestellt, man bekommt immer das Gleiche. Und keine Angst, was auch immer auf dem Teller liegt, es ist nicht giftig, auch wenn es einem die Tränen in die Augen treibt.

Mexiko ist groß, wirklich groß. Fast drei Wochen fahren wir jeden Tag bis Sonnenuntergang, um den südlichsten Landkreis Chiapas zu erreichen. Als ich am Horizont eine Rauchsäule sehe, denke ich sofort an traditionelles Asado, eine reichhaltige Grillfeier mit Bier. Doch ich liege falsch. Proteste werden in Mittelamerika auf den Straßen gehalten, die dafür nicht nur gesperrt, sondern oft auch in Brand gesetzt werden. Als Touristen, die das politische Geschehen im Land nicht beeinflussen können, begegnen wir den Sperren mit Humor und viel Verhandlungsgeschick. Doch nicht alle heißen Touristen willkommen. Kurz vor der Grenze erreichen wir eine Sperre, an der die Meute keinen Spaß versteht. Schneller als wir umdrehen und flüchten können, liegt Peter samt Motorrad kopfüber im Straßengraben. Die Warnung verstehen wir. Es kostet uns mehrere Tage und über tausend Kilometer Umweg, um schließlich Mexiko Richtung Guatemala zu verlassen.

Nach Wochen in den ausgedehnten Wüsten Mexikos sind die saftig grünen Hügel von Guatemala eine willkommene Abwechslung. Bei genauerer Betrachtung erkennt man manchen Hügel als aktiven Vulkan. Wir befinden uns auf dem pazifischen Vulkangürtel, dem wir bis Feuerland folgen werden. Nicht selten steigt aus den Gipfeln der Berge eine kilometerhohe Rauchsäule auf. Am Vulcan de Fuego bietet sich endlich die Gelegenheit für eine Besteigung und auf fast 4000 Hm sogar zu übernachten! Man könnte denken, eine Dampflokomotive nähert sich, doch das bin ich! Ich ringe nach Luft. Der Aufstieg durch dichten Regenwald ist für einen Motorradfahrer eher Qual als Freude. Zur Belohnung spuckt de Fuego nach Sonnenuntergang tiefrote Lava-Fontänen in die Nacht. Alle Anstrengungen sind vergessen.

Was Straßensperren anbelangt, ist Guatemala nicht anders als Mexiko. In der Nähe der Grenze zu Honduras stehen wir wieder vor einer Blockade. Die ständigen Blockaden sind wie Moskitos in der Hochzeitsnacht. Gerade wenn es schön wird, taucht wieder eine Blockade auf. Unsere Stimmung ist kurzzeitig am Boden. Dann haben wir es geschafft und Guatemala liegt hinter uns. Die Erleichterung ist dennoch etwas durchwachsen. Wir kommen nach Honduras und das belegt 2023 Platz fünf des internationalen Kriminalitäts-Index. Naja, schlimmer als am Campingplatz in Bayern kann es nicht sein.

Als wir inmitten des hondurischen Regenwald vor den Maya-Ruinen von Copán stehen, haben wir das Gefühl, selbst große Entdecker zu sein. Zwischen Regenwald und Vulkanen führt unsere Route weiter durch Honduras und Nicaragua zum nächsten Vulkan, den Masyo. Am Kraterrad stehend, umgeben von stinkenden Schwefelwolken, blicke ich direkt in die brodelnde Caldera des Vulkans. Caldera ist ein schwaches Wort für den Blick direkt in das stinkende, rotglühende und heiß brodelnde Hinterteil des Teufels. Die Natur präsentiert sich von ihrer wildesten Seite.

Sämtliche mittelamerikanischen Länder sind winzig im Vergleich zu Mexiko. Mittelamerika ist bei Costa Rica nur rund hundert Kilometer breit. Daher sind wir gezwungen, einen Großteil der Strecke auf der Panamericana zu fahren. Es ist fast unmöglich, geeignete Schotterpisten in Richtung Panama zu finden. Verlässt man den Highway, überfährt man bald riesige Leguane, steht in einem Nationalpark oder am Strand, wo es auch nicht weiter geht. Dafür hat man selbst auf dem Highway das Gefühl, mitten in Dschungel zu sein.

Weil wir gerade von der Größe der Länder sprechen. Mittelamerika hat kleine Länder, dafür aber viele davon - und jeder Grenzübergang ist eine Nervenprobe für sich. Als typische Europäer bereiten wir jeden Grenzübertritt akribisch vor. Die Prozeduren dauern oft den ganzen Tag und man willst nicht wegen einem fehlenden Zettel zurück an den Start geworfen werden. Für die Grenzprozeduren gibt es ganz genaue Schritt-für-Schritt-Anleitungen auf iOverlander. Irgendwann tauschen wir die Gründlichkeit mit Gelassenheit. Taucht eine Grenze auf, schalte ich das Hirn aus, verliere jedes Zeitgefühl und lasse mich entspannt durch die Zollprozeduren treiben, auch wenn sie den ganzen Tag dauern.

Kurz vor Panama umschiffen wir gekonnt wieder eine der nervigen Straßensperren. Große Steine können Autos aufhalten nicht aber Motorräder. Kurz später stehen wir auf der Puente Centenario, einer gewaltigen Hängebrücke mit 6-spuriger Autobahn. Unter uns der Panamakanal. Imposant taucht inmitten der Regenwald-Landschaft am Horizont Panama City auf. Die Stadt der Wolkenkratzer interessiert uns überhaupt nicht. Wir sind zum Motorradfahren und nicht zum Ansehen der Skyline hier. Wir fahren geradewegs zum Flughafen, um unsere Motorräder nach Kolumbien fliegen zu lassen.

Es gibt keine Straßen von Panama weiter in den Süden. Die Motorräder müssen in Kisten verpackt und nach Kolumbien geflogen werden. Das ist keine große Sache, der Papierkram dauert keine fünfzehn Minuten. Viel länger starre ich auf die vermutlich 50 Motorräder im Lager der Spedition. Im letzten Monat haben wir vielleicht ein oder zwei andere Motorradreisende getroffen. Hier ist ein ganzes Lager voll mit Motorrädern auf dem Weg nach Süden. Nach Corona ist offenbar der Travel-Bug die neue Seuche.

Unsere Motorräder fliegen direkt in den kolumbianischen Regenwald nach Leticia. Leticia ist vermutlich der entlegenste Ort, den ich in meinem Leben besucht habe. Nach Leticia führt keine Straße. Das nächste Stück Asphalt ist vermutlich 1000 km entfernt. Der Ort kann nur per Boot oder Flugzeug erreicht werden. Unser Plan ist, die Motorräder auf ein Amazonas-Boot zu verladen und weitere 1.200 km tiefer ins Herz des Regenwaldes nach Manaus zu gelangen. So zumindest der Plan. Wir haben nämlich nur mehr vier Wochen, um den Weg auch wieder aus dem Regenwald hinauszufinden. Sonst sitzen wir im meterhohen Schlamm fest. Es gibt nur eine Piste aus dem Wald und in der Regenzeit wird sie unpassierbar.

Leticia liegt im 3-Länder-Eck Kolumbien-Peru-Brasilien. Das Besondere ist, es gibt zwischen den Ländern keine Grenzen, es gibt ja auch keine Straßen, die irgendwo hinführen. An einer Stelle verbindet eine wackelige Holzbrücke, über die man frei spazieren kann, Kolumbien mit Peru. Befindet man sich im brasilianischen Gebiet, zahlt man mit Real statt Pesos. Das ist der einzige Unterschied. Am liebsten beobachte ich das Treiben auf dem Markt, wo man neben Früchten selbstverständlich auch frische Piranhas kaufen kann. Ich esse lieber Huhn.

Unsere gewaltigen 690 ccm Reisemaschinen ragen aus der Masse. Niemand besitzt so große Motorräder. Die beliebtesten Motorräder in Südamerika sind kleine 150 ccm Mopeds. Wir Ausländer fallen auf wie bunte Hunde. Beim Abholen der Motorräder am Flughafen will niemand Papiere oder einen Ausweis sehen. Natürlich gehören die Motorräder den „Gringos“, wem sonst.

Boote sind das Hauptverkehrsmittel in Amazonien. Es ist leicht, ein Boot zu finden. Man geht zum Steg und bring den Reisewunsch geschickt mit Händen und Füßen zum Ausdruck. Es gibt nur zwei Fahrtrichtungen: rauf – runter. Jedes Boot fährt rauf oder runter. Schwieriger ist es, eine Abfahrtszeit zu erfahren. Wir haben ja nur 10 Finger. Calva, clava, - Bald, bald… So unkonkrete Zeitangaben sind für Europäer schwer zu akzeptieren, daran müssen wir uns aber gewöhnen.

Die Zeit bis zum Ablegen unseres Bootes nütze ich, um einen Ölwechsel durchzuführen. Ein Satz alter Schraubenschlüssel verwandelt eine wackelige Holzhütte in ein „Service-Center“. Während ihr Kind mit ausgeschlachteten Motorteilen im Staub spielt, bringt die Besitzerin tatkräftig ihre Schraubenschlüssel zum Einsatz. Shit - statt schön-schwarzem Öl kommt eine braune Masse, die stark an schlechte Verdauung erinnert, aus dem Motor. Die Dichtung der Wasserpumpe ist defekt. Das Kühlwasser gelangt direkt in den Motor und formt dort eine Art Cappuccino. Das ist nicht gut. Wo besorge ich am entlegensten Ort der Welt diese spezielle Dichtung? Dank Internet wird Saul, im 5.000 km entfernten Sao Paulo auf das Problem aufmerksam. Er ist der Chef einer KTM Werkstatt und versteht die Dringlichkeit meiner Situation. Selbstlos erklärt er sich bereit für 130.- Euro die 10.- Euro Dichtung nach Manaus, unserem nächsten Ziel, zu schicken. Noch am selben Tag hat Saul das Geld auf seinem Auslandskonto. Dank ihm endet unsere Reise nicht mitten im Amazonas.

Als ich den Steg zum Amazonas-Dampfer hinunterrolle, sickert es langsam in mein Bewusstsein: Der Traum, auf dem Motorrad durch Mittelamerika bis in den Amazonas zu fahren, ist verwirklicht!

Wüsten, Vulkane, Straßensperren und dichter Regenwald, es ist schwer die vielen Erlebnisse zu verarbeiten. Aber dafür ist ja Zeit während der 1.200 km Bootsfahrt nach Manaus, ins Herz des Amazonas.

Wie wird wohl die Amazonas Strecke? Schaffen wir es die 2.700 km nach Machu Picchu? Und wird sich die Hornhaut am Hintern noch dicker?
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Wauschi » Sa 09 Mär, 2024 13:33

Dichter Regenwald und Schlammpiste soweit das Auge reicht! Gaaaanz vorsichtig führe ich das Motorrad mit den Beinen. Nur keine hastigen Bewegungen - und auf keinen Fall am Gas zupfen! Auch wenn die Stecke stellenweise schwierig zu fahren ist, haben wir Glück mit dem Pisten-Zustand. Die BR319 ist bei Regen unpassierbar aber die einzige Verbindung zwischen Manaus (Brasilien) und den Anden. Noch 2.700 km sind es nach Machu Picchu.

Noch nie musste ich eine Motorradtour auf einem Boot beginnen, doch die einzige Verkehrsverbindung von Leticia, Kolumbien nach Manaus, den Beginn der nächsten befahrbaren Piste, ist eine viertägige Bootsfahrt auf dem Amazonas. Nach den Herausforderungen und Straßensperren in Mittelamerika freuen Peter und ich mich auf einige entspannte Tage in der Hängematte auf dem Boot, doch daraus wird nichts. Ein zunächst harmloser Regen verwandelt sich innerhalb von Minuten in eine Wasserwand. Der dichte Regen reduziert die Sicht auf null. Schon geht ein Ruck durch das Boot. Wir stecken an einer Sandbank fest. Später am Nachmittag legt ein kleines Beiboot an, etwas Geld wechselt den Besitzer, ein Krokodil verschwindet im Frachtraum. Als kurz darauf der Grill befeuert wird, ist mir klar, was es zum Abendessen geben wird. Zum Sonnenuntergang setzt ein Sandsturm ein, jetzt weiß ich, warum es keinen genauen Fahrplan gibt.

Bei tropischer Hitze passieren wir den Zusammenfluss von Rio Negro und dem Amazonas. Am anderen Ufer ist bereits die Anlegestelle und der Beginn der Piste, der Highway BR319, zu erkennen. Ich freue mich auf mein gewohntes Habitat, den Sattel! Der „Highway“ ist eine fast 1000km lange Schneise durch den Regenwald.

Die erste Anlaufstelle ist die einzige Tankstelle für fast 600 km. Ohne Wasser kommen wir einige Tage aus, aber ohne Benzin herrscht Schicht im Schacht. Unsere 690er sind für diese Strecke optimal, doch die geringe Reichweite stellt uns vor Herausforderungen. 15 Liter Reservesprit in Kanistern und Cola-Flaschen verzurrt jeder von uns auf dem Motorrad, bevor wir im Dickicht des Regenwalds verschwinden.

Schnurgerade führt die Piste bis zum Horizont, wo sie in einer Dunstwolke mit dem grau bedeckten Himmel verschmilzt. Obwohl es nicht regnet, ist die Piste ist eine feuchte, rotbraune Lebkuchenmasse. Der Schlamm ist knöcheltief, nicht einmal zum Pinkeln kann man an den Straßenrand, ohne stecken zu bleiben. Peter rutscht mit dem Motorrad von der Piste in den Straßengraben. Das Profil füllt sich mit Dreck. Es dauert einige Zeit, bis er mit rot-braun eingefärbt wieder auf der Piste steht. Ich kann leider nicht helfen, meine Schuhe dürfen nicht schmutzig werden und jemand muss schließlich Fotos schießen.

Als der Abend anbricht, stellt sich die Frage, wo wir übernachten können. Eine anscheinend absurde Frage, wenn man bedenkt, dass wir vom größten Wald der Welt umgeben sind. Da sollte Zelten kein Problem sein. Aber auf der Piste können wir das Zelt wegen der LKWs nicht aufstellen und daneben beginnt abrupt der dichte (viel dichter, als du dir jetzt vorstellst) Regenwald. Wild campen ist daher keine Option.

„Bernardo e Sandra são ótimos!“, Bernardo und Sandra sind großartig, sagt iOverlander. Auf Kilometer 296 sind die Koordinaten eines inoffiziellen Campingplatzes eingezeichnet. Bernardo und Sandra sind wirklich großartig, wir müssen nicht einmal unser Zelt errichten. Mit etwas Schaumgummi unter einem Wellblechdach sind wir zufrieden. Die Küche ist ein Paradies für Tiere und Organismen. In ihr wurde vermutlich die letzte Ausgabe von Terra-X gedreht. Harald Lesch ist seither in Krankenstand. Etwas Tee und gekochte Eier reichen als Abendessen vollkommen aus.

Der nächste Tag bietet den gleichen Anblick. Eine inzwischen langweilige braunrote Piste bis zum Horizont. Gelegentlich wird die Monotonie durch einen mit Tropenholz beladenen Lastwagen, der auf unserer Fahrspur entgegenkommt, unterbrochen. An Flüssen warten Fähren, die uns für kleines Geld übersetzen. Die Reichweite der Motorräder schwebt wie ein Damoklesschwert über uns. An der ersten Tankstelle nach zwei Tagen fahrt ruft der Tankwart schon von weitem: „Sem benzina!“. Sprit gibt es erst in der nächsten Ortschaft. Nächstes Mal punkern wir noch mehr Treibstoff!

Angekommen im Dorf Xapuri haben wir nach drei Tagen den Größen Teil des Amazonas hinter uns gelassen. Es verspricht ein entspannter Abend zu werden, als sich das mit einem lauten Knall das Kühlwasser aus meinem Motorrad verabschiedet. Kurz vor der Dämmerung zerplatzt ohne Vorankündigung der Kühlmittelschlauch. Das kochend heiße Kühlwasser reinigt effektiv meine Stiefel. „Jo, bist du deppat!“ (Dt. „Oh, wie unvorteilhaft!“), schreie ich. Vor einsetzen der Dunkelheit muss ich einen Ersatzschlauch finden. Peter leiht mir sein Motorrad, auf dem ich das Dorf auf der Suche nach Ersatz durchstreife. Zum Glück mangelt es hier nicht an Müll. Im Hinterhof einer Werkstatt finde ich einen alten Motor samt Kühlmittelschlauch. Im Schein der Taschenlampe setzen wir den Schlauch ein, befüllen den Kühler – der Motor läuft wieder.

Am 3-Ländereck zwischen Brasilien, Bolivien und Peru, in Puerto Maldonado, endet allmählich der Regenwald. Bevor wir den Wald endgültig hinter uns lassen, besteigen wir ein Kanu für eine Tour am Tambopata Fluss. Die Tiere hier im Regenwald sollen besonders beeindrucken, doch Motorradfahrer im Regenwald fühlen sich nicht wohl. 40°C, Moskitos, Krokodile und Spinnen-Vieh ist nicht mein Ding. Für nur einen Moment trage ich kurze Hosen und werde für den Leichtsinn mit über hundert Insektenstichen bestraft. Selbst die Hornhaut am Hintern schützt nicht vor den Stichen. Die Evolution hat meinen Körper auf Motorradfahren optimiert – nichts wie weg von hier.

Der letzte verkrustete Dreck der Schlammpiste fällt ab, als wir die Serpentinen der Interoceanic Route bei Marcapta, Peru, in Angriff nehmen. Nur wenige Orte der Welt bieten vergleichbaren Kontrast: Das Frühstück liefert eine Tankstelle im Amazonasbecken, Mittag stehen wir auf fast 5000 Hm umgeben von atemberaubender Berglandschaft. Statt Moskitos begegnen uns Lamas und Alpakas. Alpakas sind viel niedlicher als Moskitos und man kann daraus Socken machen.

Die Strecke von Puerto Maldonado nach Cusco könnte man leicht an einem Tag bewältigen, wären da nicht die vielen Berge. Es sind aber nicht die Serpentinen, die Zeit kosten. Nach den monotonen, endlosen Geraden durch den Amazonas bleiben wir an jedem See, Berg und Lama stehen, um Bilder zu knipsen. Wir genießen die Abwechslung. Es herrscht kein Verkehr, es gibt keine Beschränkungen oder Polizeikontrollen. Die Anden gehören uns allein.

Cusco, die einstige Hauptstadt des Inca-Reiches, ist chaotisch doch optimal, um das Motorrad auf Vordermann zu bringen. Die Kühlmittelschlauche sollen ersetzt und die Ventile müssen eingestellt werden. Die auf Google-Maps eingezeichnete KTM-Vertragswerkstatt entpuppt sich als China-Roller Teilehandel mit undefinierten Öffnungszeiten. Selbst einfache Ersatzteile wie Ölfilter oder Ventil-Shims sind in der ganzen Stadt nicht zu erhalten. Schläuche kaufe ich im KFZ-Handel. Die Ventil-Shims schleife ich per Hand.

Innerhalb eines Tages sind wir bereit, das nächste Highlight unserer Reise nach Feuerland in Angriff zu nehmen - Machu Picchu. Nach Machu Picchu führen keinen Straßen, aber zum Hidroeléctrica, einem Wasserkraftwerk in unmittelbarer Nähe. Die Website dangerousroads.org beschreibt die Strecke als: „… sehr gruselige, nicht befestigte Straße! Nichts für Leute mit Schwindelgefühlen, Angst vor hohen Abgründen oder Erdrutschen.“. Ich kann kaum beschreiben, wie sehr ich mich auf die Strecke freue! Hat man den Verkehr in Cusco überlebt, kann einen nichts mehr umbringen.

Wer die 80 Kehren aufs Stilfser Joch mag, liebt die Strecke nach Machu Picchu. Die Strecke sieht aus, als hätte der Architekt beim Zeichnen einen epileptischen Anfall gehabt. Die Straße führt hinauf auf 4.300 Hm und dort ist es gnadenlos kalt. Ich ziehe alles an was ich mitführe. Lange Unterhosen, dicke Handschuhe und sogar die Regenausrüstung helfen nicht gegen die Kälte. Von der Passhöhe gibt es keine Fotos, die Zähne klappern so stark, alle Bilder sind verwackelt.

Machu Picchu liegt auf nur 2.400 Hm und damit wesentlich tiefer als die umliegenden Ortschaften. Auf dem Weg hierher haben wir die 5000er Grenze einige mal gestreift. Cusco, unser Ausgangspunkt, liegt auf 3.400 Hm. Im „Tal“ des Rio Urubamba, der zu besagtem Kraftwerk führt, ist es angenehm warm. Und ja, die Beschreibung der Strecke auf dangerousroads.org stimmt. Seitlich der rund 30 km langen Piste geht es schwindelerregend in die Tiefe, doch schwer zu fahren ist die Strecke nicht. Im Tal wird gerade eine Straße gebaut. Statt Angst vor hohen Abgründen weiche ich Baggern aus und fürchte mich vor roten Baustellen-Ampeln.

10 km vor Machu Picchu ist endlich das Kraftwerk. Escobar ist hier kein Drogenbaron, sondern ein netter Restaurantbesitzer, der uns erlaubt, die Motorräder hinter seinem Haus abzustellen. Für Motorradfahrer beginnt hier der schlimmste Abschnitt der Reise, von hier aus geht es ZU FUSS weiter. Wir folgen den Bahngleisen in die Ortschaft Aquas Calientes, wo wir Eintrittskarten für Machu Picchu bekommen und eine Unterkunft finden. Als sich am nächsten Morgen der Frühnebel hebt, stehen wir vor den Ruinen von Machu Picchu.

Es ist nicht nur der majestätische Anblick der Ruinenstadt inmitten der grünen Berge, der die Dopaminproduktion ankurbelt.
Wir haben es geschafft das Motorrad vom Herzen des Amazonas mitten in die Anden zu treiben. Kann man dieses Motorrad Abenteuer noch toppen?

Ich will eine neue Strecke über die Altiplano nach Bolivien fahren. Wird uns der neue Trans Trail Argentina gefallen? Wird es uns gelingen Offroad nach Ushuaia zu gelangen? Und wie geht es weiter mit der Hornhaut am Hintern?
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Wauschi » Mo 11 Mär, 2024 15:07

Zischend steigt eine Dampfwolke hoch, denn das Wasser hat den Krümmer erreicht. Bis zu den Knien stehe ich im Rio Cardiel und versuche das Motorrad zum anderen Ufer zu bringen. Für eine Umkehr reicht der Sprit nicht aus, wir müssen hier durch. Offroad durch Argentiniens Pampa ist alles andere als langweilig.

Vor mehr als einem halben Jahr hatte ich meinem Freund Peter versprochen mit ihm Südamerika zu durchqueren und dabei so viel wie möglich offroad zu fahren. Hier in Peru ist es einfach, eine schwierige Piste durch die Berge zu finden. In den nächsten zwei Monaten fahren wir von Machu Picchu bis Feuerland.

Pisac, Moray oder auch den farbenfrohsten aller Berge, den Cerro Colorado, besichtigen wir nur kurz. Das mit der Kultur soll man nicht übertreiben. Davon geht die Hornhaut am Hintern weg. Unser Blutdruck steigt freudig auf 200, als wir auf Satellitenbildern Pisten finden, die weder auf Google Maps, noch auf OpenStreetMap eingezeichnet sind.

Peru entpuppt sich als Paradies für Motorrad Abenteurer. Die Bergwelt ist unberührt von Tankstellen, Unterkünften, Restaurants und Kaufhäusern. Mit gekonnt eingesetzter Pantomime betteln wir tagtäglich bei Einheimischen um einige Tropfen Benzin. Essen beschaffen ist auch schwierig. Gibt es ausnahmsweise eine Tankstelle mit Mini-Shop dann schlagen wir zu, es gibt Kartoffel-Chips und Schokoriegel. Manchmal sind sogar gezwungen, Wasser zu trinken!

Um in das von Cusco nur rund 500 km entfernte Arequipa zu gelangen, sind wir rund eine Woche unterwegs. Da wir keine GPX-Tracks haben und die Strecke neu erkunden ist das Vorankommen mühsam und birgt einige Überraschungen. Kurz vor einem Tagesziel, der kleinem Ortschaft Chachas, gibt es kein Weiterkommen mehr. Die Straße ist verschüttet, auf der Umfahrung bleibe ich im Schlamm stecken, der Benzin geht zur Neige, kein Handyempfang, drei Stürze. Nachdem wir mehrere Stunden versuchen, auf knapp 5000 Hm Querfeldein einen anderen Weg zu finden, geben wir auf. Was für ein Tag! Ein ganz normaler Tag in den Anden.

Letztes Jahr berichtete ich in einigen Ausgaben der MA vom beschwerlichen Weg durch den Karakorum und Himalaya bis zum Mt. Everest. In Asien gibt es schöne Berge, doch die Gipfel der Altiplano sind für mich unübertroffen. Auf den wenigen verfügbaren Straßen im Himalaya sind unzählige LKWs und Touristen unterwegs. In den Anden ist die Bergwelt endlos, unberührt und durchzogen von tausenden einsamen Schotterpisten. Nirgends habe ich mich je so frei gefühlt wie hier.

Pflicht-Ziel ist die Salar de Uyuni in Bolivien, die größten Salzwüste der Welt. Wir reisen auf der wenig bekannten chilenischen Strecke an und wollen dann auf der Rally Dakar Strecke von 2015 die Salar von West nach Ost durchqueren. Das Problem dabei ist, unsere Motorräder benötigen für die knapp 400 km rund 40 Liter Sprit. Doch hier gibt es keine Tankstelle. Stunden verbringen wir in Ollagüe, der größten Stadt der Region, damit, von Tür zu Tür zu gehen und nach Treibstoff zu betteln. Der Trick dabei ist, um nur „cinco litros“, fünf Liter, zu fragen und erst bei Erfolg, die Anforderung zu erhöhen. Wer im Projektgeschäft tätig ist, der kennt das. Wenn man gleich mit der Tür ins Haus fällt: „lo siento, no tenemos“ – nix haben Sprit.

Stellt euch den Bodensee wie eine große, weiße Leinwand vor – nur ungefähr 20-mal größer. Auf dieser weißen Leinwand kann man sich mit dem Motorrad frei bewegen. Die Krux daran: aufgrund der Erdkrümmung verliert man einen Reisepartner nach einigen Kilometern Abstand aus den Augen. Er verschwindet auf Nimmerwiedersehen hinter dem Horizont. Hält der Partner, um zu trinken, das Schuhband zu binden oder muss lulu (Dt.: pinkeln) – du findest ihn nie wieder. Aus diesem Grund ist es im Fall einer Panne auch sehr unwahrscheinlich auf der Salar gefunden zu werden. Diese Abgeschiedenheit stört uns nicht, im Gegenteil, selten hat uns das Fahren mehr Spaß gemacht als hier!

Würde Alpinestars wissen, wie zäh Lamafleisch ist, würden sie daraus Motorradstiefel machen. Gestärkt durch ein „menú con carne“ nehmen wir die rund 400 km lange Lagunenroute durch den Eduardo Avaroa Nationalpark in Angriff. Über 6000 m hohe Vulkane dominieren das Erscheinungsbild der Strecke am Hochplateau. Aufgrund der Höhe, Kälte und vor allem der nicht präparierten Sandpiste habe ich großen Respekt vor dem Teilstück. Auf einer früheren Reise kostete es meiner Frau und mir drei anstrengende Tage, die Strecke zu bewältigen. Inzwischen habe ich meine Lektionen gelernt. Auf der leichten, potenten 690er fliegen wir regelrecht über die Piste. Sandstücke, in denen ich damals stecken blieb, durchfahre ich mit über hundert km/h.

Nach nur sieben Stunden sitzen wir in San Pedro bei einem Hopfen-Malz Energydrink und sehen zu, wie hinter der Atacama-Wüste die Sonne verschwindet. Unsere Motorräder verursachen ein Dilemma. Einerseits möchten wir eine Fahrpause einlegen und so die Schönheiten der Landschaft genießen, andererseits macht es unbeschreiblichen Spaß, am Gasgriff zu drehen. Das Drehen am Gasgriff gewinnt. Morgen fahren wir weiter, Pausen gibt es später irgendwann. Vielleicht.

Bisher hielten sich die Ausgaben für Essen, Trinken und Unterkünfte in Grenzen, doch in Chile wird unser Portemonnaie von akuter Magersucht befallen. Preise wie in Europa sind selbst in Europa nicht akzeptabel. Wir entscheiden, so viel als möglich auf der kostengünstigeren argentinischen Seite der Anden weiterzufahren und entdecken den Trans Trail Argentinien. Der TTA ist eine 9000 km lange Route von Bolivien bis Ushuaia, der südlichsten Stadt. Das Besondere an der Route ist, sie verläuft abseits der Hauptstraßen und hauptsächlich offroad.

Bei Susques, an der bekannten Ruta 40, inhalieren wir das erste Mal argentinischen Staub. Welch ein Genuss! Die Schotterpisten sind in großartigem Zustand und teilweise breit wie eine Autobahn. Da wir auf der Piste fast immer allein unterwegs sind, kommen wir schneller voran als auf den Highways. Als zweites Highlight entdecken wir die „Camping Municipal“ Campingplätze der Gemeinden, die uns für kleines Geld beherbergen. Und dann gibt es noch Wein, Steaks und viel Sonne – wir schließen Argentinien ins Herz.

An einem kleinen Grenzposten bei Futaleufu kreuzen wir zurück nach Chile um der rund 1300 km langen und vermutlich schönsten Straße Chiles, der Carretera Austral, zu folgen. Gerne würde ich schreiben, wie hier Motorradfahrer aus aller Welt zusammentreffen, doch nur eine Handvoll gleichgesinnter kreuzt unseren Weg. Die Carretera Austral scheint das Mekka der Radfahrer zu sein! Jeder, der einen Drahtesel besitzt, ist hier unterwegs. Der Wahnsinn ist, die Gegend ist fast nicht besiedelt, immer kalt und gesegnet mit 200 Regentagen im Jahr. Nach einem regnerischen Tag nehmen wir uns (mürrisch) ein Zimmer und heben die Stimmung mit einem Schluck kaltem Bier. Die Radabenteuer übernachten im Straßengraben und hoffen vermutlich auf den bald einsetzenden Tod. Die Radfahrer sind für mich die wahren Helden der Carretera Austral.

Im Süden, kurz vor Villa O'Higgins, durchquerten wir den tiefgrünen Magellanischen Regenwald. Schneebedeckte Berge und Seen fassen diesen einsamen Abschnitt ein. Sturm, Nebel und das nasse Wetter lassen hier das Thermometer selbst im Sommer nur zögerlich in den zweistelligen Bereich klettern. Jedes Kleidungsstück krame ich hervor, lege es an und fahre wie der Michelin-Man – ein von oben bis unten mit Dreck verschmierter Michelin-Mann mit böser Mine und zerzaustem Bart. Beim Fahren klappern die Zähne so laut, ich kann den Motor kaum hören. Egal wie schön es hier ist, ich will die Nässe und Kälte nicht mehr ertragen. Nach nur einem Tag in Villa O'Higgins brechen wir in das wesentlich wärmere, auf der anderen Seite der Berge liegende El Chaltén auf.

El Chaltén ist nur 100 km Luftlinie entfernt, doch die Strecke dorthin ist mehr als 1000 km lang. Patagonien ist mehr als doppelt so groß wie Deutschland, hier gilt, der Weg ist das Ziel! Genau das wird uns bewusst, als wir dank TTA den unscheinbaren Paso Rodolfo Roballos passieren und statt der beliebten Ruta 40 der Ruta 41 zum Perito Moreno Nationalpark folgen. Wir passieren Herden von Wildpferden, tiefblaue Seen um die Lamas grasen, unberührte Berglandschaft und das Wichtigste, eine einsame Schotterpiste nur für uns allein. Gefühlt hundertmal halte ich an, um mit Bildern den Moment einzufangen. Es ist, als hätten wir mit dem TTA und dessen einsame Routen einen Schatz entdeckt, der tagtäglich neue Überraschungen birgt.

Jedes österreichische Kind weiß, die schönsten Berge sind in Österreich. Als einige Kilometer vor El Chaltén das Massiv des Mt. Fitz Roy auftaucht und wir mit den Motorrädern direkt darauf zufahren, vergesse ich kurz meine Herkunft. Wir müssen anhalten. Es ist nicht möglich weiterzufahren, ohne die Berge wirken zu lassen. Treffenderweise bedeutet El Chalten in der Sprache der Tehuelche-Indianer „rauchender Berg“. Und wer Fitz Roy mit dem Kapitän der HMS-Beagle und Chales Darwin in Verbindung bringt, liegt richtig. Allerdings waren Darwin und Fitz Roy ohne Motorrad unterwegs, vermutlich kennt deshalb ihre Berichte kaum jemand.

Der kleine Ort El Calafate ist der Ausgangspunkt zur drittgrößte Süßwasserreserve der Welt, dem Perito-Moreno-Gletscher. Es ist beeindruckend in greifbarer Nähe eines gewaltigen Gletschers zu stehen und zu beobachten, wie er wie in Zeitlupe kalbt. Zu dem Zeitpunkt sind unsere Gedanken jedoch bei Peters Kettenrad. Regelmäßiges Zähneputzen hat nichts geholfen. Nach 20.000 km fallen die Zähne aus. KTM-Teile sind in Patagonien nicht zu bekommen, KLR-Teile aber schon. Wer hätte gedacht, dass Kawasaki-Teile nach etwas Bohren auf eine KTM passen. Not macht erfinderisch.

Selbst wenn ich nur davon berichte, muss ich husten. Die Piste in den Torres Del Paine Nationalpark besteht aus so feinem Staub, ein Furz reicht, um dieses Puder aufzuwirbeln. Zwischen den Motorrädern halten wir einen Kilometer abstand, um nicht zu ersticken. Torres Del Paine ist beliebt für ausgiebige Wanderungen, auch wir laufen zu Fuß herum, aber mit dem Benzinkanister. Unser Benzinvorrat hat nur gereicht, um uns hierherzubringen. Die Reichweite unserer Motorräder ist eine Schwachstelle, die wir gut kennen. Was wir einkalkuliert haben, ist die oft schlechte Qualität des Benzins. Der mit Methanol oder sonstigem Klump versetzte Sprit verringert unsere Reichweite oft um 20%! Kurz nach Dunkelheit taucht der Chef des Campingplatzes mit zwei Cola-Flaschen mit Benzin auf. Erleichtert kann es weiter gehen.

Ich gestehe, ich bin kälteempfindlich. Bei kalt und nass hört bei mir der Spaß auf. Torres del Paine ist nur rund 1.600 km Luftlinie von der Antarktis entfernt und eine Kaltfront ist in Anmarsch. Für mich heißt das nichts wie rauf auf die Motorräder, um dem Regen zu entkommen. Zumindest ein paar hundert Kilometer bis über die Magellan Straße nach Feuerland wollen wir es schaffen.

Feuerland überrascht uns. Auf Satellitenbildern wirkt Feuerland durch die unzähligen zerklüfteten Inseln und Kanälen aufregend. Dort angekommen ist das Fahren eher langweilig. Kein Baum hier, kein Baum dort, freie Sicht bis zum Horizont. Das Land ist flach, lediglich kurz vor Ushuaia gilt es einen kleinen Bergkamm, der selbst im Sommer oft schneebedeckt ist. Es ist kalt, dreckig, nass. Und ich trage immer noch meine gesamte Michelin-Mann Kleidersammlung. Die Straße in Tierra del Fuego ist (leider) gut ausgebaut.

Ushuaia konkurriert mit dem definitiv südlicher liegenden Puerto Williams, um den Titel die südlichste Stadt der Welt zu sein. Puerto Williams ist aber viel kleiner und schwerer zu erreichen. Bequemlichkeit siegt! Deshalb ist Ushuaia unser südlichstes Ziel. Die 64.000 Einwohner Stadt ist modern, hat asphaltierte Straßen und sogar China-Restaurant. Wir fragen uns wie all die Häuser, Autos und Menschen an diesen entlegenen Platz kommen. Tausend Kilometer nicht ein Baum und dann ist da eine richtige Stadt mit unzähligen Touristen.

Mit Pizza, die jeden Italiener ins Grab bringen würde und Wein, dessen Aromastoffe nur Tetra-Pack so einzigartig entfalten kann, feiern wir den Abschluss unserer Reise. Nach fast vier Monaten und rund 28.000 km ist unser Hintern mit Eindrücken regelrecht überladen.

Mein Tipp: Nehmt euer Motorrad und brecht auf! Ein Schuhhersteller bringt es auf den Punkt: One Life – Live it!
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Dreckbratze » Mo 11 Mär, 2024 16:41

Danke für den stimmungsvollen Bericht! Sehr unterhaltsam und nett geschrieben. Ich gratuliere, diese für immer bleibenden Eindrücke erlebt zu haben! :smt023
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Martin M » Di 12 Mär, 2024 12:58

Da schließe ich mich gerne an, vielen Dank!
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon motorang » Di 12 Mär, 2024 14:44

:D Wow!
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Gerade als die Raupe dachte, die Welt würde untergehen, verwandelte sie sich in einen Schmetterling.
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon T. » Di 12 Mär, 2024 16:18

:smt023 ...feiner Bericht!
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Maybach » Di 12 Mär, 2024 17:15

Wauschi: Großartig!
Danke fürs mitfahren lassen!

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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Wauschi » Di 12 Mär, 2024 18:54

Gerne, gerne,.... :-)

Hautsächlich freue ich mich, dass sich niemand über den eigenartigen Stil beschwert hat.
Das witzige ist, ich bin selbst beim Lesen verblüfft und muss teilweise schmunzeln über die blöde/ungewöhnliche Ausdrucksweise.

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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon XT-Oli » Di 12 Mär, 2024 19:17

Sehr schöner Bericht. :smt041
Genau der "eigenartige Stil" macht das lesen zum Vergnügen.

Gruß
Oli
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Therion » Di 12 Mär, 2024 21:17

Oida! (Dt.: Sehr interessanter, amüsant geschriebener Bericht.)
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Rainer » Di 12 Mär, 2024 21:25

Stil hin ....Stil her, das ist einfach nur beeindruckend .
Danke für's aufschreiben.

g Rainer
.....move your ass, and your mind will follow.

Wer schweigt, stimmt zu.
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon Richy » Di 12 Mär, 2024 21:29

Ich bin geplättet!

Wunderbar, ich will auch dahin!

Schiebe bitte noch ein paar mehr Fotos nach!
Das beste Werkzeug ist ein Tand in des tumben Toren Hand.
(eigene Erfahrung)
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Re: Reisebericht: USA - Feuerland

Beitragvon KNEPTA » Di 12 Mär, 2024 21:36

Bdd
Russe und Salz, dann zerfallt´s !
Bdd. Ein Tag wie eine Woche.
Nix is gölber wie Gölb wie Gröllgölb sölber

Membää der KOG, Sektionsdirektor Alpen, Berge und Zeuch
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