Ich bin weder ein ausgewiesener Freund noch ein erbitterter Feind der Elektromobilität. Ich vertrete den Standpunkt, dass Mobilität nachhaltiger und ressourcenschonender werden muss. Dazu ist meiner Meinung nach die Abkehr von automobiler Adipositas wesentlicher, als die Wahl des Energieträgers. Am wichtigsten ist nach meiner Ansicht eine Abkehr von allen Formen der Überproduktion und des Überkonsums. Ein Beispiel: es mag sinnvoll sein, die Zahnbürste in Zukunft aus Bambus zu beschaffen, statt aus Kunststoff. Kontraproduktiv ist es, den 12er Vorratspack Kunststoffzahnbürsten unbenutzt zu entsorgen um statt dessen Bambuszahnbürsten zu verwenden. Übersetzt auf das Fortbewegungsmittel bedeutet das: wenn man klimaschonend unterwegs sein möchte, ist es günstig, gebrauchte Fahrzeuge so lange wie möglich zu verwenden, auch ohne den Energieträger zu wechseln und keine neuen Fahrzeuge zu kaufen. Ein weiterer Aspekt ist, so wenig Fahrzeug wie möglich und zugleich so viel wie nötig mit sich herumzuschleppen. Ein Fahrrad ist aus Sicht der CO²-Neutralität sehr weit vorne, aber bei so mancher Topographie und etlichen Arbeitszeitenmodellen wenig probat. Das Motorrad, respektive der Motorroller, bei dem um die 200 kg Material eine Person bewegen ist da weiter vorne als ein Automobil, aber auch das ist nicht an jedem Arbeitsweg von jedem Berufstätigen umsetzbar. Also mache ich mir Gedanken über ein Automobil.
Zunächst mal halte ich einen 20 Jahre alten Audi Diesel für umweltschonender als jeden Tesla oder die gesamte Riege aller Elektro-SUV. Ein Elektrofahrzeug ergibt für mich nur dann Sinn, wenn es den täglichen Transport zur Arbeitsstätte und wieder nach Hause erledigen kann, dann wieder ans Kabel gehängt wird und am nächsten Tag das selbe wieder macht. Für Fernreisen halte ich die Bahn für sinnvoller. Meinetwegen auch gerne als Autotransporter. Ansonsten eben den Benziner oder Diesel ausschließlich für die Fernreise. Tina legt in der Regel täglich einen Arbeitsweg von z.B. 19 km einfach, respektive 30 km einfach bei schlechten Wetterbedingungen oder Dauerbaustellen zurück. Sinnvoll ist also, ein Fahrzeug zu suchen, das ca. 100 km Reichweite hat, um auch bei dem Umweg über den Supermarkt noch nicht ins Schwitzen zu kommen, selbst wenn alle Verbraucher genutzt werden. Des Weiteren möchte ich vermeiden, dass ein neues Fahrzeug für mich produziert wird, sondern lieber ein bereits vorhandenes am Leben erhalten. Der erste Impuls war, meinen Morris auf Strom umzubauen. Vielleicht mache ich das, ich habe mich noch nicht entschieden. Falls ich das mache, dann erst dann, wenn der Motor nicht mehr sinnvoll zu retten ist. Das könnte länger dauern, als ich noch lebe.
Der Gedanke, ein Fahrzeug mit kleiner Batterie, wegen der umweltschonenderen Produktion und Entsorgung zu betreiben, das über die Schuko-Steckdose zu laden geht, für das also keine eigene Lade-Infrastruktur geschaffen werden muss und das mittelfristig mit einer hauseigenen Photovoltaik-Anlage mit dem größten Teil seiner Energie versorgt werden kann trieb mich um, zu recherchieren, welche Möglichkeiten es gibt.
In meinem persönlichen Lastenheft stand:
Muss gebraucht verfügbar sein
Darf inclusive Batterie nicht mehr als 1000 kg wiegen
Soll ca. 100 km Reichweite mit einer Batterieladung schaffen
Soll landstraßentaugliche Fahrleistungen haben (mindestens 80 km/h Dauergeschwindigkeit)
muss mit Mittelgebirgs-Topographie erträglich zurecht kommen (Steigungen bis 20 %)
Soll Platz für zwei Personen und Gepäck bieten
Muß an handelsüblichen mit 16A abgesicherten 230 V Schukodosen zu laden gehen
Soll über verfügbare und erschwingliche mechanische Ersatzteile, möglichst aus Großserienproduktion verfügen
Ich bin fündig geworden! In den Jahren zwischen 2009 und 2014 wurden 1600 Stück des Elektrofahrzeuges "MIA electric" des ehemaligen Peugeot-, Mercedes- und VW-Designers Murat Günak produziert. Nachdem der Laden 2014 wegen zu geringer Produktionszahlen in Konkurs ging, hat sich rund um das Mainzer Autohaus Jacobi eine Fangemeinde etabliert, die sich zum Ziel gesetzt hat, so viele MIA wie möglich am Leben zu erhalten. Dort kann man entweder mit einer auf dem Gebrauchtmarkt erworbenen MIA jeglichen technischen Support erhalten, oder man kann sich eine komplett auf null gedrehte MIA mit neuem 14kW-Batteriesatz und zwei Jahren Vollgarantie für knapp 12 k€ kaufen. Das Autohaus Jacobi besteht bei allen Kaufwilligen darauf, dass man die MIA, die man kaufen möchte zunächst für einen Monat mietet. Falls man das Auto dann kauft wird die Monats-Mietgebühr in Höhe von 250 Euro auf den Kaufpreis angerechnet. Falls man feststellt, dass die MIA doch nicht das richtige Fahrzeug ist, gibt man sie nach dem Monat zurück und alle bleiben Freunde. Sehr sympatisch.
Es gibt die MIA in drei Varianten:
"pur" mit 2,87 m Länge und drei Sitzen. Der Fahrersitz ist mittig angeordnet, die beiden Beifahrer sitzen dicht dahinter und strecken ihre Beine rechts oder links am Fahrer vorbei. Das Auto ist 7 cm breiter und 4 cm höher, aber einen satten Meter kürzer als ein 2CV.
"familiale" 32 cm länger und mit 4 Sitzplätzen in einer echten zweiten Reihe und nach wie vor mit mittigem Fahrerplatz
"cargo" ebenfalls lang und mit einem wahlweise zwei Sitzen und bis zu 1500 l Ladevolumen sowie ohne hintere Verglasung
In allen Varianten fühlt man sich wie der Straßenbahnschaffner ...
Den Weg von Mainz bis zu mir nach Hause hat die MIA gestern nicht geschafft. Zwar bin ich durchgehend im "ECO"-Modus gefahren und habe das Auto nicht über zwei von vier Balken Energieverbrauch hinaus benutzt, aber durch mehrere Umleitungen bedingt war die Fahrstrecke statt der vorgesehenen ca.90 km dann doch 105 km lang. Bei der Abfahrt zeigte mir der MIA 116 km möglicher Reichweite im Display an, 2km vor dem heimatlichen Hof war dann aber dennoch Schluss. Die restliche Strecke bedurfte des Abschleppseiles ...
Justus hat ein E-Vehikel und das ganze Dorf hat es mitbekommen
Bis jetzt macht das Vehikel Spaß und ich geb ihm eine Chance. Mal sehen, wie das nach Ablauf des Monats aussieht. Fest steht: das Ding kann unter Umständen ein brauchbarer Arbeitsplatzshuttle und überdachte Einkaufstüte werden und den erhaltenswürdigen Oldtimern die Fernstrecken überlassen. Nach meiner Einschätzung taugt das Vehikel zum Zweit- oder Drittfahrzeug oder für den urban orientierten Vorstadtbewohner. Nicht mehr, aber immerhin ...